Lamprechts Devise

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Geschichte wissenschaftlich zu untersuchen, heißt nicht nur, Lebenszeit in Archiven und Bibliotheken zu verbringen: Vergangenheit ist auch begehbar.

Karl Lamprecht (Quelle: wikipedia)

Der Leipziger Geschichtswissenschaftler Karl Lamprecht (1856-1915) schrieb den Forschenden seiner Zunft ins Stammbuch: „Jeder Historiker muss seinen Untersuchungsgegenstand zu Fuss durchschritten haben.“ Seine Devise ergänzt die Annahme, wonach journalistisch tätige Menschen ihre Storys auf der Straße finden. Letzteres tritt dann ein, wenn sie ihren Weg bewusst, aber offen für Unerwartetes beschreiten.

Wie dem auch sei, Lamprechts Devise folge ich ebenfalls als Journalist. Da dieser mit dem Historiker in meiner Berufsseele eine Wohngemeinschaft bildet, ergänzen sie sich mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen. Die Kamera dient mir als Bindeglied zwischen beiden Berufen.

Zweifelsohne ermöglicht die moderne Technik – vor allem das Internet mit seinen diversen Kartendiensten und Street Views – so manche Gegend per Cursor zu „durchschreiten“ und sogar heranzuzoomen. Aus der virtuellen Ferne geben die neuen Informationstechnologien einen Überblick über den Untersuchungsgegenstand. Trotzdem bleibt das Ziel, den Weg zu Fuss zurückzulegen.

Dadurch entschleunigt sich zwar die Recherchearbeit, aber in unserer schnelllebigen Zeit empfinde ich das hilfreich: So nehme ich die Umgebung bewusster wahr. Durchschreite ich dann den Untersuchungsgegenstand, eröffnet sich die Möglichkeit, historische Entscheidungen, wie ich sie den Quellen entnommen habe, besser nachzuvollziehen.

„Jeder Historiker muss seinen Untersuchungsgegenstand zu Fuss durchschritten haben.“

Karl Lamprecht (1856-1915)

Wer zum Beispiel am Strand von Donostia (span. San Sebastián) steht, sieht vor sich die muschelförmige Bucht mit einer kleinen Insel in der Mitte. Rechts davon liegt der alte Hafen, wo heutzutage Jachten und Sportboote ankern. Wer diese geographischen Gegebenheiten sieht, versteht, weshalb kein größeres Kriegsschiff am Kai festmachen konnte. So wird nachvollziehbar, warum im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) der Kommandant der DEUTSCHLAND seine schwerbewaffneten Marinesoldaten in Beibooten an Land schickte. Von ihrem provisorischen Brückenkopf aus evakuierten sie fluchtwillige Deutsche und Ausländer.

Weniger martialisch, aber nicht minder erhellend, ist, mit Wilhelm von Humboldts Reisebeschreibungen in Kopf und Hand die Strassen von Bilbo (span. Bilbao) zu durchschreiten. Die Methode funktioniert nicht nur im Baskenland, sondern ebenfalls in Berlin.

Bei meinem ersten Aufenthalt dort, 1991, erkundete ich die einstige Reichshauptstadt mit dem Tagebuch des baskischen Präsidenten José Antonio Agirre Lekube in der einen Hand und dem Falk-Plan in der anderen. Und mit der Spiegelreflexkamera um den Hals. Für den Basken wurde der Bahnhof Friedrichstrasse 1941 zum Dreh- und Angelpunkt seiner Flucht vor der Gestapo und der spanischen Polizei. Einen Tag bevor er dort seine Frau und Kinder in Empfang nahm, erkundete er den Ort. Nachdem ich mich fünfzig Jahre nach ihm vom Bahnsteig durch das labyrinthartige Innere zu einem der Ausgänge durchgearbeitet hatte, verstand ich das Vorgehen des Protagonisten eines meiner Bücher.

Den Pfaden historischer Personen zu folgen, macht Geschichte begehbar. So gleich lehrt sie mich Demut. Der Gang über die Wilhelmstraße zum Beispiel führt mir die Vergänglichkeit der Gegenwart vor Augen: Viele der alten Paläste, die Ministerien des Deutschen Reiches beherbergten, existieren nicht mehr. Geblieben sind einige der „Neubauten“ der späten 1930er, deren Architektur – wie die des Reichsluftfahrtministeriums (heute: Bundesfinanzministerium) – weiterhin den Muff von 1000 Jahren versprühen. Auf dem Gelände von Hitlers einstiger „Neuen Reichskanzlei“ hingegen erheben sich die neuen Bauten des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.

Lamprechts praktizierte Devise belebt bei mir ein Gefühl für Vergänglichkeit und Veränderung. Ich verstehe sie als ein Alleinstellungsmerkmal meiner Arbeit. Dennoch wende ich sie nur begrenzt an, da mir das meistens selbstfinanzierte Budget enge Grenzen setzt.

Falls Weihnachtsmarkt und LKW in Leipzig die Sicht verstellen, tut’s auch Rephotographie light. (© Ingo Niebel)

Wenn ich den Untersuchungsgegenstand durchschreite, nehme ich eine Kamera mit. In Kombination mit der geschichtswissenschaftlichen und journalistischen Arbeit betrete ich mit ihr ein neues Feld, das der Rephotographie: Das bildliche Festhalten des Jetzt erlaubt, es mit dem Gestern zu vergleichen. Und wieder grüßt die Vergänglichkeit.

Zu guter Letzt verbinde ich Lamprechts Devise mit Wilhelm von Humboldts Ideal des Forschens und Lehrens, indem ich über PartizanTravel Reisen mit historisch-politischem Inhalt durch das Baskenland anbiete und selbst führe.