(berriak-news/Ingo Niebel) Die Kommunalwahl in Nordirland hat zu einem Erdrutschsieg der republikanischen Sinn Féin geführt. Die BBC spricht von einem “Tsunami”. Das gespaltene Unionistenlager bleibt prozentual stärkste Kraft.
Das Endergebnis der Kommunalwahl vom Donnerstag in Nordirland bestätigt die Umfragen, die Sinn Feín als erste politische Kraft in der zum Vereinigten Königreich gehörenden Region voraussagten. Das Resultat gilt als historisch, da es der Partei zum ersten Mal gelungen ist, sich auf kommunaler Ebene als führende Kraft zu etablieren. Sinn Féin verdrängt die bisher dominierende Democratic Unionist Party (DUP) auf den zweiten Platz. Aufgrund des komplizierten Wahlverfahrens lag das Endergebnis erst am Samstagabend vor. 462 Mandate wurden vergeben. Die Wahlbeteiligung erhöhte sich, laut BBC, um zwei Punkte auf 55% im Vergleich zum Urnengang von 2019.
Sinn Féin, per “Tsunami” zur ersten kommunalen Kraft in Nordirland
Als nationalirisch gelten jene Parteien, die Nordirland vom Vereinigten Königreich trennen und mit der Republik Irland vereinigen möchte. Zwei Parteien dominieren es. Sinn Féin konnte seine führende Rolle ausbauen und ebenfalls auf kommunaler Ebene festigen. Die Anzahl seiner Ratsmandate erhöhte sich von 105 (2019) auf 144. Die Stimmen für die Republikaner wuchsen um 7,7% auf 30,9%. Die Social Democratic & Labour Party (SDLP) verlor 20 Mandate, da sie 3,3% weniger Stimmen erhielt als bei der letzten Kommunalwahl. Ihre landesweiten 8,7% reichten für 39 Sitze.
DUP stagniert
Als Unionisten verstehen sich die nordirischen Parteien, die ihre Region weiterhin als einen Teil des Vereinigten Königreichs betrachten. Führende Kraft ist hier die Democratic Unionist Party (DUP). Sie verzeichnete einen leichten Rückgang um 0,8% bei den Stimmen. Mit 23,3% bleibt sie zweistärkste Partei in Nordirlands Kommunen. Sie hält wie schon vier Jahren 122 Mandate. Die ebenfalls als unionistisch geltende Alliance Party of Northern Ireland (APNI) konnte ihren dritten Platz als kommunale Kraft ausbauen. Ein Plus von 1,8% bei den Stimmen bescherte ihr regional 13,3%. Der Zuwachs bedeutet 14 Mandate mehr. Insgesamt vertreten 67 Ratsmitglieder die APNI in den elf Councils der Region. Die als Hardliner geltende Tradition Unionist Voce (TUV) vergößerte die Summe ihrer Ratsmandate um drei auf neun. Das entspricht einem Plus von 1,7% auf 3,9% im regionalen Vergleich. Verluste erlitt die Ulster Unionist Party (UUP): Sie erhielt 3,2% weniger als vor vier Jahren. Mit ihren 10,9% bzw. 54 Mandaten (einem Minus von 21) bleibt sie die drittstärkste Partei im probritischen Lager vor der TUV.
Belfast, Nordirlands politischer Spiegel
Die Nordirland weite Entwicklung spiegelt sich im Ergebnis der Hauptstadt Belfast wieder. Das politische Zentrum mit seinen 355.000 Einwohnern (2021) gilt als Spiegel für die nächste Regionalwahl. Sie könnte im Frühjahr 2024 als vorgezogene Neuwahl stattfinden. Im nationalirischen Lager konnte Sinn Féin seine Ratsmandate um 4 auf 22 erhöhen, während die SDLP um ein Mandat auf fünf sank. Bei den Unionisten büßte die DUP ebenfalls einen Ratssitz ein. Ihre Fraktion zählt jetzt 14 Mitglieder. Die APNI konnte sich um ein Ratsmitglied auf elf verbessern. Zwei Sitze erhielt die UUP. Mit einem Mandat zieht die TUV erstmals in den Council ein. Die übrigen der 60 Sitze verteilen sich auf kleinere Parteien wie die Green und auf unabhängige Kandidaten.
In sechs der elf Councils hat sich Sinn Féin als führende Kraft etabliert. Einen Kommunaldistrikt übernahm sie von SDLP. Letztere verliert damit ihre einzige kommunale Bastion. Die DUP trat ebenfalls einen Council an die Sinn Féin abt Sie dominiert nur noch in den vier Councils an der irischen Nordküste.
„Working for all“
Ob die Kommunalwahl die unionistische Blockade im Regionalparlament zu Stormont lockern wird, bleibt abzuwarten. Die Vize-Präsidentin von Sinn Féin, Michelle O‘Neill, nutzte den Wahlerfolg, um den Druck auf die DUP zu erhöhen. „Die Menschen haben für eine positive Führung gewählt und für eine neues Parlament, das für alle arbeitet“, twitterte sie am Samstagnachmittag. Seit der Regionalwahl im Mai 2022 ist sie die designierte First Minister der Region. O’Neill kann ihren Posten als Regierungschefin nicht antreten, da die DUP verhindert, dass sich das Parlament konstituiert.
Im Augenblick behält die DUP ihre Blockadepolitik bei. „Die DUP hat eine gute Wahl gehabt, aber der Unionismus muss es besser machen: Wir brauchen mehr Sitze“, stellte ihr Vorsitzender Sir Jeffrey Donaldson fest. „Ich bin gerne bereit, mich mit meinen unionistischen Kollegen zusammenzusetzen, um diese Fragen zu erörtern und herauszufinden, wie eine stärkere Zusammenarbeit den Weg zu mehr Erfolg für den Unionismus im Allgemeinen ebnen kann“, fuhr er fort.
Die Unionisten erhalten ebenfalls von London Druck. Die Regierung des „Mainland“ droht mit einer vorgezogenen Neuwahl zum nordirischen Parlament 2024, falls die Blockade bis Januar andauert.
Trotz des „Tsunami“-Wahlsieges wird Sinn Féin nicht umhinkommen, sich auf kommunaler und regionaler Ebene Koalitionspartner zu suchen. Das Wahlergebnis spricht insofern eine klare Sprache. Selbst im nationalirischen Lager wird das nicht einfach sein: Die SDLP zeigt sich pikiert über ihren Absturz, für den sie Sinn Féin verantwortlich macht. „In unseren Gesprächen mit den Menschen wurde sehr deutlich, dass die Menschen wirklich verärgert über die DUP sind, dass sie die Exekutive zurückhaben wollen und dass sie eine Botschaft senden wollen“, sagte ihr Vorsitzender Colum Eastwood der Presse und fügte hinzu: „Sinn Féin bat sie, diese Botschaft zu senden und sie taten es.“
Politik als Kunst des Möglichen
Den Wahlsieg von Sinn Féin auf eine Denkzettelwahl zu reduzieren, verkennt die reale Lage. Das Alleinstellungsmerkmal der Republikaner liegt in ihrem Politikstil: Während die Unionisten – mit Ausnahme der APNI – starr am vergangenen Status Quo ihrer Vorherrschaft festhalten, bietet ihre republikanische Gegenspielerin Lösungen für konkrete Probleme an. Dabei zeigt sie sich pragmatisch und kompromissbereit. Anstatt das ideologische Ziel der Wiedervereinigung zur Priorität zu erklären, versteht Sinn Fein die Politik als Kunst des Möglichen: Aufgrund der negativen Folgen des Brexits für Nordirland dominiert die soziale Frage vor der nationalen. Menschen brauchen jetzt bezahlbaren Wohnraum und ein funktionierendes Gesundheitssystem. Die nationalirische Partei kann nun auf kommunaler Ebene zeigen, inwieweit sich ihre landesweite Parole „Working for all” vor Ort im aktuellen Rechtsrahmen des Vereinigten Königreiches umsetzen lässt. Am Ende könnte dann auch bei Anhängern der Unionisten die Einsicht dämmern, dass sie besser leben, wenn sie zur Republik Irland und somit zur EU gehörten.