Linker Vorstoß in bürgerliche Domänen

Linker Vorstoß in bürgerliche Domänen

(berriak-news/Ingo Niebel) Im Baskenland könnte der linken Unabhängigkeitskoalition EH Bildu der Einbruch in die Domänen bürgerlicher und rechter Parteien gelingen.

Die Kommunalwahl entscheidet auch über die Mandate im Rathaus von Donostia (San Sebastián). (© Ingo Niebel, 2022)

Das Baskenland bildet neben Katalonien die zweite Region im spanischen Staat, die nach Unabhängigkeit strebt. Dieses Ziel verfolgt die linke Unabhängigkeitsbewegung seit über einem Jahrzehnt nur noch mit politischen Mitteln. Eine Rückkehr zur Gewalt steht nicht zur Debatte, nachdem die Untergrundorganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA, Baskenland und Freiheit) sich 2018 auflöste. Der politische Konflikt zwischen dem Baskenland und dem spanischen Staat besteht dennoch fort: Seine Eckpfeiler bilden das Recht, selbst zu bestimmen, in welchem politischen System man leben möchte; die nationale Identität des Baskischseins und die Territorialität. Für die Analyse des Konflikts erscheint wichtig, wie die nationalbaskischen und gesamtspanisch orientierten Parteien bei der heute stattfindenden Kommunal- und Regionalwahl abschneiden werden.

Geteiltes Wahlgebiet

Das Baskenland bildet zwar eine historische, sprachliche und kulturelle Einheit; ihm fehlt jedoch ein gemeinsames politisches System. Die sieben Provinzen verteilen sich auf drei Verwaltungsgebiete: Drei von ihnen liegen in der Französischen Republik. Deshalb nehmen sie heute nicht an den Kommunal- und Regionalwahlen im Königreich Spanien teil.

Dass die übrigen vier Provinzen sich auf zwei Autonome Gemeinschaften verteilen, entspricht nationalspanischem Denken: Ein geeintes Baskenland stellt nach wie vor für Madrid einen politischen Albtraum dar. Deshalb entscheiden heute die Wähler:innen in der Foralen Gemeinschaft Nafarroa (span.: Navarra), wer sie sowohl in den Kommunen als auch im Regionalparlament vertreten wird. In den drei Provinzen der benachbarten Autonomen Baskischen Gemeinschaft (ABG) besetzt die Wählerschaft nur ihre Gemeindevertretungen neu. Die Regionalwahl wird erst 2024 stattfinden.

Bürgerliche Hegemonie

Von den beiden Gemeinschaften präsentiert sich die ABG als die wirtschaftlich und demographisch stärkere. Als hegemoniale Macht hat sich die christlich demokratisch geltende Baskische Nationalpartei (PNV) seit 1977 etabliert. Ministerpräsident Iñigo Urkullu (PNV) und PNV-Parteichef Andoni Ortuzar müssen fürchten, dass sie ihre Führungsrolle auf kommunaler Ebene verlieren könnten. Misswirtschaft wie beim Bau der Strecke für den Hochgeschwindigkeitszug TAV/AHT, etliche Korruptionsfälle, Vetternwirtschaft und ein desolates Gesundheitssystem haben das Image der Traditionspartei beschädigt.

Als Alternative bietet sich der Wählerschaft die linke Unabhängigkeitskoalition EH Bildu an. Im Gegensatz zum PNV präsentiert sie sich nicht als Garantin des Status Quo, sondern fokussiert auf die realen Probleme der baskischen Gesellschaft.

Eine andere Politik ist möglich

Letztere sorgt sich wegen des schlechten Zustandes des einst so gerühmten baskischen Gesundheitswesens. Hinzu kommen die grenzenlos steigenden Mieten in einem Land, wo der Erwerb von Wohneigentum zum guten Ton gehört. Niedrige Löhne und prekäre Arbeitsverhältnisse, wachsende Lebenshaltungskosten sowie nach oben gehende Hypothekenzinsen stehen dem Erwerb einer Immobilie entgegen. In Bilbo und der Sommerstadt Donostia (span.: San Sebastián) verschärft der vom PNV gehypte Tourismus die soziale Lage: Investoren kaufen bankrotte Kneipen und Restaurants auf, um mit lokalen Spezialitäten zu überhöhten Preisen ausländische Besucher:innen zu schröpfen. Diese neoliberale Politik verschlechtert die Lebensqualität der Einheimischen.

Deshalb könnte es EH Bildu gelingen, dass ihr Kandidat Juan Karlos Izagirre den Oberbürgermeister von Donostia, Eneko Goia (PNV), ablösen könnte. Der Arzt hatte diesen Posten schon 2011-2015 inne. Damals erregte er Aufsehen, da er auf das opulente OB-Gehalt verzichtete und darauf bestand, dass die Stadt ihm nur in der Höhe seines bisherigen Lohnes weiterbezahlte. Mit Izagirre übernahm ein weiterer Linker, Martin Garitano, die Leitung der Provinzregierung von Gipuzkoa. EH Bildu verlor damals diese Positionen 2015, weil sie unvorbereitet in die Kommunalpolitik gestartet war: Der kommunale Wahlerfolg kam fast gleichzeitig mit der Neugründung, nachdem die spanische Justiz 2008 die letzten Parteien der baskischen Unabhängigkeitsbewegung verboten hatte.

Neue Mehrheiten

EH Bildu nutzte die Niederlage und die vergangenen acht Jahre, um aus den Fehlern zu lernen. Neben Izagirre hat die Sprecherin von EH Bildu, Maddalen Iriarte, gute Chancen die Leitung der Provinzregierung von Gipuzkoa zu übernehmen. In der Hauptstadt der ABG, Gasteiz (span: Vitoria), liefert sich die EH Bildu-Kandidatin Rocío Vitero Umfragen zufolge ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der PNV-Bewerberin Beatriz Artolazabal. In Bilbo, dem Ursprungsort des PNV, kämpft Juan Mari Aburto (PNV) um eine dritte Amtszeit. Als Maßstab gelten die 14 von 29 Ratssitze, die die Partei 2019 errang. EH Bildu liefert sich in der Hafenstadt und Dienstleistungsmetropole einen Kampf um den zweiten Platz mit der sozialistischen Partei des Baskenlandes (PSE). So nennt sich der baskische Landesverband der Sozialistischen Spanischen Arbeiterpartei (PSOE).

In Nafarroa möchte die Sozialistische Partei (PSN) mit María Chivite weiterregieren. EH Bildu tolerierte Chivites Regionalregierung aus drei Parteien. Die Umfragen bescheinigen der Unabhängigkeitskoalition einen Zuwachs an Stimmen. Da die rechten gesamtspanischen Formationen – die postfranquistische Volkspartei (PP) und ihr regionaler Ableger Einheit des Navarresischen Volkes (UPN) – getrennt antreten, drohen letzterer herbe Verluste: Sie könnte den prestigeträchtigen Posten des Oberbürgermeisters der Hauptstadt Iruñea (span.: Pamplona) just an den EH Bildu-Kandidaten Joseba Asiron verlieren.

Schmutziger Wahlkampf

Nachdem die Umfragen den Aufschwung von EH Bildu prognostizierten, wurde der Wahlkampf Mitte Mai schmutzig. Dazu zog die PP den ETA-Joker. Sie skandalisierte, dass auf den Listen von EH Bildu sieben ehemalige politische Gefangene kandidierten, die einst der ETA angehört hatten. Die PSOE stimmte in den medial orchestrierten Chor ein, ebenso wie die PNV. Selbst Vertreter des Linksbündnisses Unidas Podemos (UP) hielten sich nicht zurück. Im Wahlkampfgetöse gingen die Stimmen jener Juristen unter, die hervorhoben, dass die besagten Personen wieder vollumfänglich ihre bürgerlichen Rechte besaßen: Alle hatten ihre Strafen verbüßt. Die Kampagne lief ins Leere, als die sieben Kandidat:innen von EH Bildu erklärten, dass sie ihre Mandate nicht anträten. Dennoch hielt die PP-Ministerpräsidentin der Autonomen Gemeinschaft von Madrid, Isabel Díaz Ayuso, bis ultimo an der Chimäre fest. Schließlich schoss sie sich noch auf den PNV ein. Die neofranquistische VOX kopierte Ayuso, indem sie ebenfalls das Verbot von EH Bildu forderte.

Im Baskenland entscheidet die Wahl heute, ob die PNV ihre Hegemonie im nationalbaskischen Lager vor EH Bildu wird behaupten können. Der linken Unabhängigkeitskoalition könnte der Urnengang zeigen, ob ihre indirekte Unterstützung der spanischen Minderheitsregierung von Premier Pedro Sánchez ihr daheim Vor- oder Nachteile bringt. Im regionalen Kontext entscheidet sich, ob sie sich gegenüber den spanischen Sozialisten und UP als die linke Alternative etablieren kann. Für das gesamtspanische Lager dürfte wichtig sein, ob die Landesverbände von PSOE und PP in der ABG und in Nafarroa noch fähig sind, Madrider Standpunkte mehrheitlich in den Institutionen zu verankern. Mit Blick auf das post- und neofranquistische Spektrum dürfte interessant sein, ob es der VOX gelingt, gegenüber PP und UPN zumindest einen Achtungserfolg zu erringen.