Alles über ETA
»Das Baskenland«: Ingo Niebel leuchtet den baskisch-spanischen Konflikt bis in die Winkel aus
Von Gerd Schumann
Im Baskenland kommen auf tausend Einwohner neun Polizisten; zum Vergleich: in Dänemark sind es zwei, in Deutschland drei, im spanischen Staat vier. Als »Besatzungstruppen« bezeichnet die baskische Linke jene etwa 3000 grünunifomierten, kasernierten Beamten der Madrider Elitetruppe Guardia Civil (PGC) – Kennzeichen: die Kopfbedeckung »Tricornio« (schwarzlackierter Dreispitz) – ebenso wie die Nationalpolizei (CNP) mit ihren knapp 2500 Mann. Hinzu kommen Geheimdienst und in der Vergangenheit auch illegale, konspirative Strukturen, die der Regierung zur »Aufstandsbekämpfung« dienten. Außerdem gibt es 8400 baskische Regionalpolizisten, die verächtlich – angelehnt an die indischen Hilfspolizisten im Dienste der britischen Kolonialmacht – »Zipayoak« genannt werden.
»Euskal Herria« (Land der Basken), wie die sieben baskischen Provinzen diesseits und jenseits der Pyrenäen auf baskisch heißen, weist die »höchste Polizeidichte in Europa« auf, konstatiert Ingo Niebel in seiner kürzlich erschienenen Arbeit über »Das Baskenland«. Der Historiker und Autor (u.a. für junge Welt und verschiedene baskische Medien) erzählt darin faktenreich und mit politischem Tiefgang die Entstehungsgeschichte dieses Repressionsmammuts und zugleich eines EU-weit einmaligen Widerstandsprojekts. Dabei räumt er der postfranquistischen Entwicklung einen besonderen Stellenwert ein, und den Gründen, warum der spanische Staat auch nach dem Tod von Diktator Fancisco Franco im Dezember 1975 seine Gewaltstrukturen im Baskenland aufrechterhielt – und folglich die damals anstehende Auflösung der bewaffneten antifaschistischen Untergrundorganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA; Baskenland und Freiheit) verhinderte.
Anspruch des Autors ist, »ein Bild aus baskischer Perspektive« zu schaffen, ein widersprüchliches, nicht geschöntes. Dabei geht es ihm nicht um Verständnis, sondern um Verstehen, was bedeutet, die Berechtigung des Widerstands zwar anzuerkennen, doch ebenso die eingesetzten Kampfformen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verwerfen. Das ETA-Attentat auf den Supermarkt Hipercor in Barcelona 1987 mit 27 Toten ebenso wie die 50-Kilo-Bombe von Madrid-Barajas im Jahr 2006, als zwei Unbeteiligte starben, gehören dazu.
»Die abertzale (patriotische) Linke erlebte ein ›kollektives Trauma‹«, so Niebel zum Anschlag in Katalonien 1987, »rückte aber von der ETA nicht ab«. Teile der katalanischen Linken, die im EU-Wahlkampf zuvor erfolgreich für die spanienweit kandidierende baskische Linkspartei Herri Batasuna (Vereintes Volk) geworben hatte, tat sich da schon schwerer und sprachen von »Verrat«. Tatsächlich war – auch – der politische Schaden »immens« (Niebel). Was ebenso für den Anschlag Ende 2006 gilt.
Grundsätzlich jedoch prägt der zentralstaatliche Herrschaftsanspruch die historische Entwicklung des spanisch-baskischen Konflikts bis in den gegenwärtigen unerklärten Ausnahmezustand. Indem sich Niebel den Zeitraum zwischen 1998 und 2008 als »inhaltlichen Schwerpunkt«, wie er selbst sagt, wählt, macht er die Ursachen für das permanente Scheitern der Suche nach politischen Auswegen aus der Gewalt plastisch. Zwei der drei, jeweils von Waffenstillständen der ETA begleiteten, Versuche, den Konflikt zu lösen, fallen in diese Zeit.
Nach 1988/89, als Madrid mit ETA in Algier verhandelte, sorgte letztlich auch 1999 und 2006 mangelnder oder vielleicht sogar nicht vorhandener Wille des Staats zu einer akzeptablen Lösung für den Abbruch des »Friedensprozesses«. Die Regierung erzeugte jeweils ein Klima des Mißtrauens, in dem sich schwer verhandeln läßt. Der Unterdrückungsapparat ließ trotz gegenteiliger Versprechungen weiter seine Muskeln spielen, und Madrid propagierte, anstatt ernsthafte Vorschläge zu machen, weiter als Ziel, die ETA beseitigen zu wollen.
Der politische Konflikt wurde auf einen rein technischen Vorgang reduziert, eine Herangehensweise, die sich als nicht kompatibel mit den baskischen Vorstellungen erwies. Diese beinhalteten vier Forderungen: eine Volksabstimmung im Baskenland über den zukünftigen Status; die Respektierung des Ergebnisses durch Madrid; Freilassung der politischen Gefangenen; Abzug der spanischen Polizei. Im Zentrum stand das Selbstbestimmungsrecht, und insofern ähnelte der baskische Vorschlag jener Lösung, die im April 2008 bezüglich des Nordirland-Konflikts zwischen der britischen Regierung und der irischen Freiheitsbewegung ausgehandelt worden war. Doch folgte Madrid dem Beispiel Londons nicht. ETA beendete ihren 15monatigen Waffenstillstand, der alte Zustand war wiederhergestellt – und Niebel beschreibt in diesem Zusammenhang auch detailliert die Strukturen der durch die fünf Jahrzehnte ihrer Existenz schon häufig totgesagten Untergrundorganisation.
Trotzdem ist »Das Baskenland« kein Buch über die ETA. Es leuchtet den spanisch-baskischen Konflikt in seiner historischen Komplexität bis in die Winkel aus. Dazu gehört die Darstellung der Kultur mit dem Schwerpunkt »Euskera«, die baskische Sprache, über deren Wurzeln schon Wilhelm von Humboldt und Kurt Tucholsky ihre Beobachtungen kundtaten. Niebel, der Baskischsprecher, stellt eigene Vermutungen auch darüber an und schafft es, die in der Tat komplizierte Materie durchschaubarer zu machen.
»Das baskische Labyrinth«, so der zutreffende Titel des ersten Standardwerks zum Baskenland in deutscher Sprache von Josef Lang (1. Auflage Frankfurt/M., 1983), und Michael Kaspers »Baskische Geschichte« (Darmstadt, 1997) werden nun um Niebels »Das Baskenland« mehr als ergänzt.
Ingo Niebel: Das Baskenland – Geschichte und Gegenwart eines politischen Konflikts. Promedia, Wien 2009, 240 Seiten, 17,90 Euro
Den Originaltext finden Sie hier.
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