Borrell, die loose cannon der EU-Aussenpolitik

Borrell, die loose cannon der EU-Aussenpolitik

Ein kühler Kopf, starke Nerven und Weitsicht sind vonnöten, wenn die EU-Aussenpolitik den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine regional begrenzen will. Ihr Aussenbeauftragter Borrell gibt jedoch die loose cannon.

Heutzutage meint das englische “loose cannon” eine Person, die rasch die Kontrolle verliert und dann unbedachte Dinge sagt und tut. Die Metapher von der “losen Kanone” stammt aus vergangenen Jahrhunderten, als Kanonen zur Hauptbewaffnung auf hölzernen Kriegsschiffen gehörten. Die massiven Rohre lagen auf Holzwagen, auf denen sie an die Schießscharten heran- oder weggeschoben wurden. Wehe, wenn diese schweren Waffen bei starkem Seegang oder im Gefecht nicht festgezurrt waren: Hohe Wellen oder der Rückstoss beim Feuern konnten sie aus der Stellung werfen. Eine unkontrolliert übers Deck rollende Kanone wurde zur tödlichen Gefahr für die Marineartilleristen und das Schiff.

Josep Borrell (2020) (Quelle: wikipedia)

In einer Kriegssituation wie sie die EU gerade an ihrer Ostgrenze zu meistern hat, möchte niemand eine loose cannon an Bord haben. Der Wunsch ist Vater des Gedanken, die Realität sieht jedoch anders aus. Niemand geringeres als der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der EU-Kommission, Josep Borrell, führt sich so auf, als müsste er der englischen Metapher entsprechen.

Zu einem Zeitpunkt, als es den EU-Staaten darum gehen muss, einen kontinentalen Krieg mit der Russischen Föderation zu verhindern, gießt der vierundsiebzig Jahre alte Sozialist aus Spanien Öl ins Feuer. “Wir sind gerade dabei Waffen und sogar Kampfjets zu liefern. Wir reden nicht nur über Munition; wir liefern gerade die wichtigsten Kriegswaffen”, sagte der ehemalige spanische Aussenminister am Rosenmontag auf seiner Video-Pressekonferenz. Das war die Nachricht, die die ukrainische Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj hören wollte.

We are going to supply arms and even fighter jets. We are not talking just about ammunition; we are providing the most important arms to go to war.”

O-Ton EU-Aussenbeauftragter Josep Borrell, 27.2.2022

Nach Borrells Ansage war die EU nur noch einen winzigen Schritt davon entfernt, Kriegspartei zu werden. Dem Spanier schien entgangen zu sein, dass sein Gegner, Russlands Präsident Wladimir Putin, zu jenen Menschen gehört, die das Recht auf Selbstverteidigung sehr weit auslegen: “Wenn der Kampf unvermeidbar ist, muss man als Erster zuschlagen”, lautet sein Credo. Das US-Magazin Newsweek und die Financial Times machten es 2015 bekannt. Die deutsche Tageszeitung Die Welt erinnerte zwei Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine daran.

“Jeder, der versucht, sich bei uns einzumischen, unser Land und unser Volk bedroht, muss mit einer sofortigen Reaktion Russlands rechnen. Und mit Konsequenzen, wie sie sie noch nie zuvor in ihrer Geschichte erlebt haben”, drohte der russische Präsident am 24. Februar, als er den Krieg gegen die Ukraine in seiner Fernsehansprache rechtfertigte.

Wer Krieg will, muss ihn studiert haben

Nach Borrells Ankündigung sprossen die Spekulationen um die Flugzeugtypen, die in Frage kämen. Da ukrainische Piloten sie fliegen sollten, konnten es nur Jagdbomber sowjetischer Bauart sein. Polen und Bulgarien sind EU- und NATO-Mitglieder, deren Luftwaffen noch MiG-29, Suchoi Su-22 und Suchoi Su-25 fliegen. Die Slowakei verfügt noch über Militärhubschrauber sowjetischer Bauart. Ob die drei Länder die Maschinen überhaupt abgeben wollten oder konnten, bedachte Borrell nicht.

Die ukrainische Regierung nahm den EU-Chefdiplomaten beim Wort und setzte flugs Piloten nach Polen in Marsch. Das Parlament in Kiew verkündete, schon bald kämen auch Flugzeuge aus Bulgarien und der Slowakei. Die genannten EU- und NATO-Staaten reagierten jedoch ganz anders. Der polnische Präsident Andrzej Duda sagte im Beisein von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf einem polnischen Fliegerhorst, dass in nächster Zeit keine Maschinen flögen. Die bulgarische und slowakische Regierungen gaben am Dienstag bekannt, dass es keinen Deal bezüglich der Flugzeuge gäbe. Borrell musste vor der Presse einräumen, dass es vonseiten der EU keinerlei “Transfers” gäbe. Das Magazin PUBLICO zitiert ihn dahingehend, dass einzelne EU-Länder “bilateral” Flugzeuge spenden würden.

Ob der Spanier von selbst zur Einsicht kam oder ihn jemand zur Ordnung rief, bleibt offen. Putin nahm Borrells Äusserungen nicht ernst genug, um seiner Drohung Taten folgen zu lassen. Die Eskalation des kriegerischen Konflikts und sein Überspringen auf das Gebiet von EU und NATO blieben fürs Erste aus. Dass die Herausforderungen eines EU-Aussenbeauftragten Borrell überfordern könnten, war hinlänglich bekannt.

Konfliktlösung überfordert Borrell

Zuvor hatte er im Konflikt des spanischen Staates mit der Autonomen Gemeinschaft Katalonien gezeigt, wessen Geistes Kind er ist. Dazu benutzt er auch seine jetige Stellung. Obwohl selbst Katalane, nimmt der überzeugte Nationalspanier kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, seine nach Selbstbestimmung strebenden Landsleuten schlecht dastehen zu lassen. Seine antikatalanischen Äußerungen sind Legion. Den persönlichen Unwillen und die Unfähigkeit, einen Konflikt wie den mit Katalonien politisch zu lösen, hat er mehrmals in Worte gefasst.

Im Juni 2018 sagte er mit Blick auf die in Unabhängigkeitsbefürworter und -gegner gespaltene katalanische Gesellschaft: “Bevor man die Wunden schließen kann, muss man sie desinfizieren.” Seine Gegner wussten, was er damit meinte: Das als illegal betrachtete Referendum vom 1. Oktober 2017 ließ die spanische Zentralregierung von ihrer Polizei niederknüppeln und mit Gummigeschossen zusammenschießen. 900 Verletzte mussten sich ihre Wunden im wahrsten Sinne des Wortes desinfizieren lassen. Im Anschluss setzte Madrid die katalanische Autonomie außer Kraft, regierte die nicht mehr Autonome Gemeinschaft fortan selbst und ordnete Neuwahlen an. Kataloniens damaliger Präsident Carles Puigdemont begab sich nach Belgien, bevor gegen ihn ein spanischer Haftbefehl erging. Ihm und seinen Bodyguards gelang es, die Überwacher auszutricksen, indem sie in einem Tunnel den Wagen wechselten. Eine Handvoll Minister:innen folgten ihrem “president”, andere blieben, wurden verhaftet und abgeurteilt.

“Loose cannon” im DW-Interview

https://www.youtube.com/watch?v=8UinbGbdyfQ

Dass die Situation in Katalonien Borrell menschlich wie politisch überforderte, zeigte er 2019 im Interview mit der Deutschen Welle. Im Gespräch ging es um den Vorwurf, Puigdemonts angeklagte Kabinettsmitglieder und die ehemalige Parlamentspräsident Carme Forcadell erhielten keinen fairen Prozess. Als der DW-Journalist Tim Sebastian Borrell mit dessen Widersprüchen konfrontiert, mutiert der Spanier in eine loose cannon. “Sie verhören mich nicht, Sie haben mich zu interviewen”, entfährt es dem damaligen Aussenminister ganz undiplomatisch. “Stellen Sie die richtigen Fragen und lassen mich sprechen”, fordert Borrell. “Während der erhitzten Diskussion verließ der Politiker das Set, kam aber zurück, um das Interview zu beenden, nachdem er mit seinen Mitarbeitern gesprochen hatte”, erklärt die DW hierzu. (Auf dem Mittschnitt auf Youtube sieht man, wie Borrell die Beherrschung verliert (ab 04:20 min.), nicht jedoch, wie er das Interview unterbricht.)

Borrell ukranisiert den Konflikt mit Katalonien

Thank God, Zelensky is not the type of leader who hides in a car, he stays there resisting and we have to support him,”

O-Ton Josep Borrell, 28.2.2022

Borrell und seinen Premier in Spanien, Pedro Sánchez (PSOE), erwarten dieses Jahr noch einige EU-Urteile, die Puigdemont und der Unabhängigkeitsbewegung Auftrieb geben könnten. Vielleicht deshalb hielt es der EU-Aussenbeauftragte für schlau, den Ukraine-Krieg zu katalanisieren oder den Konflikt mit Katalonien zu ukranisieren. “Gott sei Dank ist Selenskyj nicht der Typ von Anführer, der sich in einem Wagen versteckt; er bleibt dort, um Widerstand zu leisten und wir haben ihn zu unterstützen”, sagte Borrell am 28. Februar auf einer Pressekonferenz im Anschluss an ein EU-Ministertreffen. Er nahm die Medienlüge auf, wonach Puigdemont im Kofferraum des Wagens seiner Frau aus Katalonien geflohen wäre. Der indirekt angesprochene Katalane, mittlerweile Mitglied des Europäischen Parlaments, nahm die unerwartete Vorlage auf und konterte über Twitter.

https://twitter.com/KRLS/status/1498370883764822019

Der Hohe Vertreter “ist wütend auf mich, weil ich ihn gefragt habe, warum sich 44% Spanier in seinem Leitungsteam befinden”, schreibt der Ex-Präsident. Der nationale Prozentsatz sei sehr viel höher als bei anderen EU-Kommissaren, stellt der Katalane fest. Des Weiteren interpretiert Puigdemont Borrells Äußerung zu Selenskyj dahin, “dass anscheinend jemand bedauert, dass es [2017] in Barcelona zu keinem Blutbad kam.”

Den EU-Verantwortlichen müsste mittlerweile klar sein, dass ihr Hoher Vertreter und Vizepräsident der EU-Kommission wie eine lose Kanone übers Deck rollt. Bisher ließ sich der Schaden noch begrenzen. Trotzdem stellt der Chefdiplomat wegen seiner Unbeherrschtheit in der aktuellen Lage ein erhebliches Kriegsrisiko dar. Genauso gut könnte man einen Pyromanen beauftragen, er möge mit brennender Fackel in der Hand für den Brandschutz in der dunklen Pulverkammer sorgen.