Im Osten Russen, im Westen Basken und Katalanen, die alle irgendwie vom Selbstbestimmungsrecht reden und auch noch davon Gebrauch machen (wollen). Dazwischen irgendwie Deutsche, die mit diesem Recht nichts anzufangen wissen. „Nationale Selbstbestimmung? Bloß nicht!“ ruft Welt-Redakteur Alan Posener und schreibt mal eben die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung um.
„Die Europäische Union ist die Antwort auf Europas schlechte Erfahrungen mit dem Selbstbestimmungsrecht“, konstatiert der Mitarbeiter des Springer-Verlags 25 Jahre nach dem Mauerfall. Kaum zu glauben, erzählen die historischen Fakten doch genau das Gegenteil. Niemand Geringeres als Bundeskanzler Helmut Kohl bemühte 1989/90 eben jenes von UNO (1970) und KSZE (1975) international verbriefte Recht, um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten außenpolitisch abzusichern. Dieser Prozess mündete 1992/93 in die Umwandlung der Europäischen Gemeinschaft in die Europäische Union. Ein kurzer Blick zurück.
Selbstbestimmung, Herzstück der CDU-Politik
„Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, hieß es in der alten Fassung (1949-1990) der Präambel des Grundgesetzes.
Die Passage war den politischen Umständen jener Zeit geschuldet. Die Bundesrepublik Deutschland verstand sich als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches. Als solche negierte sie einerseits die völkerrechtliche Existenzberechtigung der Deutschen Demokratischen Republik als zweiten deutschen Staat und andererseits stellte sie die polnische und sowjetische Kontrolle über die ehemals deutschen Gebiete Schlesiens und Ostpreußens infrage. Daher zeigten die bundesdeutschen Schulatlanten jener Zeit die strittigen Territorien als besonders schraffierte Flächen.
An dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik und wie das Selbstbestimmungsrecht anzuwenden ist, schieden sich bis zur Maueröffnung die politischen Geister. Während die SPD sich in dieser Frage zuletzt realpolitisch flexibel zeigte, wertete die CDU der Präambel anders. So sagte ihr Vorsitzender Bundeskanzler Helmut Kohl am 8. November 1989 in seinem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vor dem Bundestag: „Freie Selbstbestimmung für alle Deutschen, das war, ist und bleibt das Herzstück unserer Deutschlandpolitik.“
Einen Tag später verkündete Günter Schabowski als Sekretär des Zentralkomitees der SED für Informationswesen vor der internationalen Presse, man werde sofort die DDR-Grenzen für reisewillige Ostdeutsche öffnen. Das war, wie wir heute wissen, der Anfang vom Ende des zweiten deutschen Staates.
Die Dynamik, die Schabowski mit seiner Erklärung auslöste, veranlasste Kohl, Ende November in seiner Zehn-Punkte-Erklärung im Bundestag eine deutsch-deutsche Konföderation vorzuschlagen, damit “das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann”.
Junktim: Wiedervereinigung und Euro
Sein Vorhaben rief die westeuropäischen EG-Partner auf den Plan, allen voran Frankreich und Großbritannien. François Mitterand beziehungsweise Margret Thatcher wollten verhindern, dass Kohl die staatliche Einheit im Alleingang durchzog. Vor allem sahen sie die Gefahr, dass ein vereintes Deutschland das Gleichgewicht der Mächte in Europa zu seinen Gunsten verändern könnte.
Daher verband Mitterand seine Zustimmung zur Wiedervereinigung mit der Bedingung, dass die erweiterte Bundesrepublik Deutschland nicht neutral würde, sondern Teil der EG bliebe und mithülfe, eine Gemeinschaftswährung einzuführen.
Diese conditio sine qua non setzte der französische Präsident auf dem EG-Gipfel in Strassburg durch. Die Süddeutsche Zeitung berichtete damals von „stundenlangen Verhandlungen“, in denen er erreichte, „dass der Prozeß, ‘in dem das deutsche Volk seine Einheit durch freie Selbstbestimmung wiedererlangt’, nicht nur von den Grundsätzen der Schlussakte von Helsinki bestimmt werde, sondern auch ‘in die Perspektive der gemeinschaftlichen Integration eingebettet sein’ müsse“.
Paris akzeptiert das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen
Dem EG-Gipfel folgte am 12. Dezember 1989 eine Debatte über die deutsche Wiedervereinigung in der französischen Nationalversammlung. Außenminister Roland Dumas unterstrich, dass die “dauerhafte Lösung der deutschen Frage” von zwei untrennbaren Grundsätzen abhinge. Zum einen sei da das Recht der Deutschen in beiden deutschen Staaten, frei über ihre Zukunft zu bestimmen. “Das ist das Selbstbestimmungsrecht. Das ist der demokratische Weg.” Zum anderen müsse grundlegend gelten: “Diese Entscheidung muß von den anderen europäischen Ländern, besonders von den Nachbarländern, angenommen werden.” Abschließend hält Dumas fest: “Zum ersten Mal seit Ende des Krieges hört dieses Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes auf, theoretisch zu sein, und wird Wirklichkeit, vorausgesetzt, der Weg zu Freiheit, zu Frieden und zu Solidarität wird nicht behindert.”
In der Folge setzte die bundesdeutsche Außenpolitik die Vorgaben aus Straßburg und Paris um, indem sie zum einen die Grundlagen legte, damit die EG sich in die Europäische Union fortentwickeln konnte. Zum anderen erkannte sie die Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze an.
Moskau zieht nach
Entscheidend für die weitere Entwicklung war das Treffen von Kohl mit dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow, das der Bundeskanzler am 10. Februar 1990 so zusammenfasste:
“Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein, dass es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will.”
In diesem Sinne, ohne aber das deutsche Staatsvolk direkt über die Wiedervereinigung abstimmen zu lassen, stellte die Bundesregierung die Weichen, so dass die DDR am 3. Oktober 1990 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitrat. Trotzdem steht in der Präambel, die Deutschen der 16 Bundesländer hätten „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet“.
Wenn man so will, dann ist die Europäische Union eine Folge des Rechtes der Deutschen auf Selbstbestimmung und nicht die Verhinderung desselben.
Verhandlungen verhindern Konflikte
Der deutsche Weg zeigt, dass Verhandlungen unter allen Beteiligten, die sich aus den politischen Umständen ergeben, notwendig sind, damit Konflikte, in denen das Selbstbestimmungsrecht zur Anwendung kommt, nicht aus dem Ruder laufen, sondern nachhaltig gelöst werden können. Dass das möglich ist, hat das Referendum in Grönland gezeigt, das sich von Dänemark getrennt hat, ohne dass es zu Problemen gekommen wäre. Denselben Weg beschreiten jetzt die Schotten. Und diesen Pfad schlagen gerade auch Katalanen und Basken ein.
“Die Ukraine hat aus unserer Sicht ein Recht auf einen eigenen Entwicklungsweg. Die Ukrainer haben das Recht, selbst zu entscheiden”, stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 9. April 2014 im Bundestag fest. Historiker, Biographen und Memoirenschreiben werden offenbaren, warum die Ukraine zerbrach und die Bewohner der Krim sich in freier Selbstbestimmung entschieden, der Russischen Föderation beizutreten. Dafür verantwortlich ist aber nicht das Selbstbestimmungsrecht und seine Ausübung, sondern die geostrategische Konfrontation, die die NATO- und EU-Staaten mit Russland in der Ukraine gesucht haben.
Die innereuropäische Entwicklung 1989/90 widerlegt Poseners Behauptung. Die EU wäre gut beraten, wenn sie in Madrid ihren Einfluss geltend machen würde, damit Basken und Katalanen im spanischen Staat über ihre Zukunft selbst abstimmen können. Das würde die Union eher stärken, denn schwächen: Nicht wer dieses legitime, demokratische Recht anwenden möchte, sondern wer eben das verweigert, trägt die Verantwortung für die Konflikte, die daraus resultieren.