(berriak-news/Ingo Niebel) Die aktuelle Eskalation zwischen Katalonien und dem spanischen Zentralstaat kommt nicht von ungefähr. Sie entspringt der Politikunfähigkeit, die Spaniens Premier Mariano Rajoy und seine postfranquistische Volkspartei (PP) seit 2006 an den Tag legen. Auf die Lage in Katalonien ging ich 2014 in der 2. Ausgabe meines Buches “Das Baskenland. Geschichte uhnd Gegenwart eines politischen Konflikts, Wien: Promedia 2014) ein.
In dem Kapitel “Der spanische Staat erodiert” (S.246-247) schrieb ich über den sich entwicklenden Konflikt Madrids mit Katalonien:
“Aber die Verfassung gehört zu den Heiligen Kühen, die in Spanien niemand zu schlachten wag.
Eben dieser Punkt führte dazu, dass das Verfassungsgericht 2010 in einem rechtlich zweifelhaften Akt, das neue katalanische Autonomiestatut kassierte. Dem hatten zuvor erstens das katalanische Parlament, dann die Cortes und zuletzt noch mal der katalanische Souverän in einer Abstimmung zugestimmt. Erst dann legte der PP Beschwerde beim Verfassungsgericht ein – und bekam schließlich recht. Die Katalanen verstanden die Message so: Egal, was ihr demokratisch entscheidet, was Madrid nicht passt, wird passend gemacht. Sie reagierten mit einer Demonstration, die 1,5 Millionen Menschen in Barcelona zusammenbrachte. Die Regierung Zapatero, die das Statut mit auf den Weg gebracht hatte, rettete, medial betrachtet, nur der Umstand, dass am selben Tag die spanische Nationalmannschaft die Fussball-WM in Südafrika gewann. In Katalonien ging die Partie aber verloren: Die Zustimmung für die Unabhängigkeit von Spanien riss die 50 Prozent-Marke. Das erklärt, warum sich Spaniens reichste Region immer weiter vom Zentralstaat entfernt hat.
Die Entfremdung zwischen Zentralstaat und Peripherie ist mittlerweile so groß geworden, dass der Think Tank der deutschen Bundesregierung, die Stiftung Wissenschaft und Politik, seit Sommer 2013 die Abspaltung Kataloniens als eine ernstzunehmende Option betrachtet. Verhindern liesse sich das, so die SWP weiter, wenn Madrid auf die Katalanen zuginge. Aber auch in diesem Fall glänzt Rajoy durch eine starre Haltung, die ihn im ärgsten Fall zwingen könnte, die katalanische Autonomie außer Kraft und die Armee in Marsch setzen zu müssen.
Im Januar 2014 hat das katalanische Parlament beschlossen, die Cortes um Erlaubnis zu bitten, im November ein Referendum abhalten zu dürfen. Dabei sollen die Katalanen entscheiden, ob zukünftig der Weg zur staatlichen Unabhängigkeit eingeschlagen werden soll oder nicht. Das Nein aus Madrid ist ebenso sicher, wie der Fakt, dass die Katalanen in der einen oder anderen Form die Abstimmung durchführen werden.”
Die Ereignisse des 20. September 2017 in Barcelona haben die Analyse bestätigt. Erstens sind die Unabhängigkeitsfürworter ihren Weg weitergegangen, zweitens blieben sie auch gestern gewaltfrei. Ein Exponent dieses katalanischen Polit-Stils ist die linksradikale und antikapitalistische CUP, der das Kunststück gelang, die spanische Nationalpolizei daran zu hindern, ihre Parteizentrale zu stürmen (ohne Durchsuchungsbefehl versteht sich), indem sie parteiübergreifend Menschenmassen zu ihrem Schutz mobilisieren konnte. Trotz der aufgebrachten Stimmung schaffte sie es andererseits, mit Besonnenheit und Musik die Belagerung in ein Happening umzuwandeln. Spät in der Nacht mussten die gescheiterten Hüter der spanischen Ordnung unter dem Schutz der katalanischen Polizei, den Mossos d’Escuadra, den Rückzug antreten. Ähnliche Szenen wiederholten sich an anderen Plätzen in der Stadt. Sie sind Ausdruck einer politischen Kultur, die sich in letzten zehn Jahren in Katalonien entwickelt hat und die bis ins Baskenland reicht. Gestern zeigte sie ihre Resistenzkraft und bot der exekutiven Gewalt Paroli, mit der Rajoy und seine PP bisher innenpolitische Konflikte zu unterdrücken pflegten.
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