Die linke Minderheitsregierung von Premier Sánchez kann aufatmen: Mit nur einer Stimme Mehrheit stimmte das Parlament der Arbeitsmarktreform zu – dank der postfranquistischen Volkspartei (PP).
175 Abgeordnete des Congreso stimmten gestern für die Arbeitsmarktreform, 174 dagegen. Das Abstimmungsergebnis bedeutet einen Pyrrhussieg für Regierungschef Pedro Sánchez von der Sozialistischen Spanischen Arbeiterpartei (PSOE) und seiner Dritten Vizepräsidentin Yolanda Díaz, die das Linksbündnis Unidas Podemos (UP) in der Koalition vertritt. Die Reform ist durch, aber die Zusammenarbeit der Minderheitsregierung mit ihren bisherigen Mehrheitsbeschaffern, der linken Unabhängigkeitskoalition EH Bildu aus dem Baskenland und der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) hat Schaden genommen.
Beide Formationen stimmten gegen die Reform, weil sie sich 2020 schriftlich verpflichtet hatten, das neoliberale Arbeitsgesetz von 2011 zu kippen. Sie unterstützen so das Wahlversprechen von PSOE und UP. Die Regierungsparteien änderten ihre Meinung – auch auf Druck aus Brüssel – und wollten nur noch einige Punkte reformieren. Ihre Gesprächspartner von EH Bildu und ERC stellten sie vor die Wahl, die Reform abzunicken oder dagegen zu stimmen. EH Bildu und ERC votierten für das Nein.
Sánchez’ Politikunfähigkeit
Die Katalanen fühlen sich eh von der Madrider Regierung vor den Kopf gestoßen. Sánchez’ Exekutive hat aus wahltaktischen Gründen die Wiederaufnahme der Gespräche am Verhandlungstisch zur Lösung der Unabhängigkeitsfrage in Katalonien auf die Zeit nach der vorgezogenen Landtagswahl in Kastilien-León verlegt. Schon zuvor hatten die Madrider auf Zeit gespielt und ihre katalanischen Gesprächspartner vorgeführt. Das Verhalten führte zu Unmut innerhalb der heterogenen Unabhängigkeitsbewegung. Die Kritik richtet sich jedoch primär gegen den Präsidenten der katalanischen Regionalregierung, Pere Aragonès (ERC). Das scheint das eigentliche Ziel der Regierung Sánchez gewesen zu sein.
Für EH Bildu begründete der Abgeordnete Oskar Matutes die Ablehnung der Reform. „Wir sagen, was wir machen, und wir machen, was wir sagen“, führte er aus. Bei der Debatte vor der Abstimmung nannte er fünf Punkte – „keine fünfzig“ – die EH Bildu mit der Regierung verhandeln wollte. Der Wunsch scheiterte an der fehlenden Verhandlungsbereitschaft. Als Hauptkritikpunkt bleibt, dass die Arbeitsmarktreform Kündigungen billiger macht. Die afroamerikanische Bürgerrechtlerin aus den USA, Angela Davis, zitierend führte Matutes aus: „Wir sind nicht hier, um die Dinge zu akzeptieren, die wir nicht ändern können, sondern um die Dinge zu ändern, die wir nicht akzeptieren können.“
Taktische Spielchen mit Basken
In der Vergangenheit hat die Regierung Sánchez im Gegenzug für die Unterstützung von EH Bildu bei Gesetzesvorhaben politische baskische Gefangene in Haftanstalten nahe oder sogar ins Baskenland verlegt. Das brachte erwartungsgemäß die extrem rechte und die rechtsextreme Opposition in Harnisch, war aber legal: Laut Gesetz muss ein Häftling im Umkreis von 100 Kilometer vom letzten Wohnort inhaftiert werden. Illegal ist hingegen die als „Verstreuung“ (dispersión) bekannte Verlegung von Verurteilten mit ETA-Hintergrund fernab der Heimat.
Für EH Bildu gehört die Lösung der Gefangenenfrage zu einem ihrer Hauptziele in der baskischen Innenpolitik. Mit einer rechtsgeführten Zentralregierung wäre es schwierig bis unmöglich, den augenblicklichen Zustand zu erreichen. Darauf dürfte Sánchez’ Kalkül basiert haben, als er EH Bildu dazu zwang, der Reform diskussionslos zuzustimmen oder mit den Rechtsparteien dagegen zu stimmen.
Beim Taktieren muss der Sozialdemokrat auch die Baskische Nationalpartei (PNV) als Mehrheitsbeschafferin bei der Stange halten: Sein baskischer Landesverband, die Sozialistische Partei des Baskenlandes (PSE), koaliert mit den Christdemokraten von Ministerpräsident Iñigo Urkullu in der Autonomen Baskischen Gemeinschaft. Die PNV stimmte er bisher gewogen, indem er der autonomen Baskische Regierung unter anderem die Kompetenz übertrug, dortige Haftanstalten zu verwalten und über den Haftstatus von Gefangenen mitzubestimmen. Dabei handelte es sich ebenfalls um eine längst überfällige Massnahme, die die Vorgängerregierungen zurückhielten, um sie als politisches Druckmittel in den Verhandlungen mit dem PNV einsetzen zu können. Dennoch stimmte die PNV gegen die Arbeitsmarktreform, weil ihr die Verhandlungsführung nicht gefiel.
Unter dem Strich hat Sánchez seine Reputation als verlässlicher Verhandlungspartner aufs Spiel gesetzt und seine Glaubwürdigkeit verloren. Der Zweifel an der Verlässlichkeit seines gegebenen Wortes und das seiner Mitkoalitionärin Díaz ist gesät. Ein ernstgemeinter Politikwechsel sieht anders aus. Fürs Erste werden Sánchez und Díaz aber damit durchkommen, denn eine Alternative ist nicht in Sicht.
Casados Politikunfähigkeit
Dass ausgerechnet der Abgeordnete Alberto Casero der führenden Oppositionspartei durch einen Abstimmungsfehler der Minderheitsregierung zum Erfolg verhilft, markiert nur das Tüpfelchen auf dem letzten I von Pablo Casados Politikunfähigkeit. Letztere manifestiert sich in der Frontalopposition des Parteichefs zur Regierung Sánchez. Dagegen wäre nichts einzuwenden, stünde die Volkspartei für eine diametral entgegensetzte Politik zu der der Regierung. Das ist aber nicht der Fall, wie gerade die Debatte um die Arbeitsmarktreform zeigt.
Letztere entstand unter Casados politischem Ziehvater, Mariano Rajoy. Ab 2011 brachte sie Hunderttausende auf die Strassen. Deshalb versprachen die Parteien links von der PP, dass sie die Reform abschaffen würden, sobald sie an die Macht kämen. Ans Regieren kamen Sánchez und die PSOE 2018 über einen Misstrauensantrag im spanischen Parlament. Rajoy verlor sein Amt und den Vorsitz in der Partei, den Casado übernahm.
Rajoys Abwahl und die folgenden beiden vorgezogenen Neuwahlen markierten das Ende jener Epoche, in der nur eine Partei die gesamtspanische Regierung stellte. Zukünftige Exekutiven werden auf Koalitionen basieren. Casados Politikstil widerspricht jedoch dieser Erkenntnis.
Utopie der absoluten Mehrheit
Der Parteichef glaubt immer noch, dass er für die PP die absolute Mehrheit zurückerobern könnte. Das Ziel will er mittels Frontalopposition erreichen. Nun wusste schon der „Eiserne Kanzler“ Otto von Bismarck, dass Politik die Kunst des Möglichen ist, da sie sich nicht im politischen Vakuum entfaltet. Casado setzte jedoch auf einen kompromisslosen Konfrontationskurs. Weder die Pandemie noch die desaströse Wirtschaftslage des spanischen Staates veranlassten ihn, zum Wohl der Allgemeinheit Partei- und persönliche Interessen zumindest kurzfristig zurückzustellen. Wo nur möglich, machen seine Abgesandten Sánchez’ Regierungspolitik madig, selbst wenn es um EU-Gelder geht, die den drohenden Staatsbankrott hinauszögern.
Ins Konzept passte Casados Kurztrip nach Berlin. In der deutschen Hauptstadt wollte er dem neugewählten CDU-Parteichef Friedrich Merz die Hand schütteln. Anschließend besuchte er die Klausurtagung der CSU. Vorbei sind die Zeiten, als kurz nach der Jahrtausendwende die PP mit José María Aznar an der Spitze von Partei und Regierung so einflussreich war, dass sie die Europäische Volkspartei politisch neu ausrichten konnte. Von dieser Gestaltungsmöglichkeit ist Casado meilenweit entfernt. Ein Grund hierfür liegt in seiner Politikunfähigkeit.
Diese manifestierte sich erneut im Nein der Volkspartei zum Reförmchen der Arbeitsmarktreform, obwohl deren Kern unangetastet blieb. Wieder einmal verpasste Casado die Gelegenheit, politisches Format zu zeigen, indem er sich konstruktiv an der Debatte beteiligte. Stattdessen unterlief ihm als Parteichef der größte anzunehmende politische Unfall, indem einer seiner Abgeordneten für den Regierungsvorschlag stimmte. Dadurch entsteht der Eindruck, als hätte der Oppositionsführer noch nicht einmal seine Fraktionsmitglieder unter Kontrolle.
Unter dem Strich bleibt der Eindruck, dass weder mit der PSOE noch mit der PP Staat zu machen ist. Hierzu bedürfte es eines grundlegenden Wechsels des Politikstils. Das bedingt jedoch Weitsicht und dass die Entscheidungsträger in beiden Parteizentralen den veränderten politischen Umständen Rechnung tragen.
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