Die moderne Kryptologie macht unsere digitalisierte und vernetzte Welt sicherer. Sie produziert ein Mindestmaß an Schutz und Vertraulichkeit. Heutzutage ruht diese Wissenschaft auf zwei Hauptsäulen: der Kryptographie und der Kryptoanalyse. Erstere befasst sich mit dem Verfassen von Geheimschriften, im (deutschen) Volksmund „Codes“ genannt; letztere mit dem „Knacken“ derselben. (Über diese Begrifflichkeiten werden wir uns anderer Stelle unterhalten müssen.) Unserem heutigen Wissenschaftsverständnis nach gilt ein Geheimverfahren nur dann als „sicher“, wenn jemand daran gescheitert ist, es zu brechen. Daraus leitet sich die Regel ab: keine Kryptographie ohne Kryptoanalyse.
Die historische Kryptologie befasst sich mit Verschlüsselungstechniken der Vergangenheit und deren Entzifferung. Wann letztere endet, bestimmt die individuelle Willkür. Ich beschäftige mich mit der deutschen Kryptologie des 19. und 20. Jahrhunderts. Der engere Zeitrahmen umfasst die Spanne von 1870 bis 1945.
Um es vorwegzunehmen: Ich bin kein Kryptologe und habe nicht vor, einer zu werden. Die Welt der Codes und Chiffren stellt ein Universum für sich dar. Ich besuche es gerne, weil es Geheimnisse bereit hält, die mich als Historiker interessieren. Bisher habe ich es nur mit sachkundigen Menschen an meiner Seite betreten. Obwohl ich meine Grundkenntnisse ständig erweitere, betrachte ich das „Codeknacken“ als die Domäne der Fachleute.
Der Reiz des Verschlüsselten und sein historischer Kontext
Als Geschichtswissenschaftler fasziniert mich, wie Kryptoanalytiker:innen aus dem Buchstaben- oder Zahlensalat einer verschlüsselten Nachricht einen mehr oder minder lesbaren Klartext herausholen. Sobald dieser vorliegt, rekonstruiere ich den historischen Kontext. Der Reiz liegt darin herauszufinden, inwieweit die wiederentdeckten Informationen den Forschungsstand ergänzen oder neue Aspekte aufwerfen. Die Kolleg:innen aus der Kryptologie wünschen sich dabei, dass bei der Recherche in Archiven der Originaltext, der der verschlüsselten Botschaft zugrunde lag, wieder auftauchen möge oder wenigstens dessen entschlüsselte Version.
Das hört sich leichter an, als es meistens ist: Jene Nachrichten wurden ja einst aus einem Grund verschlüsselt. Andere Quellen, aus denen sich der Kontext erschließen lässt, gibt es manchmal nicht. Sicherheitsbestimmungen vernichteten quasi automatisch einen Teil der Quellen, die der Historiker gerne in einem Archiv verwahrt sähe. Hinzu kommen die verschiedenartigen Vernichtungshandlungen während und am Ende der beiden Weltkriege. 1945 konfiszierten die Nachrichtendienste der Siegermächte überliefertes Geheimmaterial und hielten es weiter unter Verschluss.
Deutsche Kryptologie im 19. und 20. Jahrhundert
Von den Einzelfällen, auf die ich an anderer Stelle eingehen werde, einmal abgesehen, verfolge ich mit der Arbeit noch ein weiteres Ziel: Ich will wissen, wie Staat, Militär und Gesellschaft in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert mit der Kryptologie als Wissenschaft umgingen.
Den Anstoß zu diesem Vorhaben gab mir das Standardwerk „The Codebreakers“ (1996). Darin stellt der Nestor der Kryptologie-Geschichte, David Kahn, fest: „German cryptology goose-stepped toward war with a top-heavy cryptography and no cryptoanalysis“ (Etwa: Die deutsche Kryptologie marschierte im Gleichschritt gen Krieg mit einer schwergewichtigen Kryptographie und keinerlei Kryptoanalyse). Warum war das so und wie wirkte sich diese Unausgeglichenheit auf den Kriegsverlauf aus? Die Antworten werden Erkenntnisse liefern, um zu verstehen, wie sich die Kryptologie und die Intelligence Community in Deutschland ab 1914/18 personell und strukturell entwickelt haben. Hier schließt sich der Kreis zur Intel.
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