Madrid vereinnahmt – mal wieder – Gernika

Madrid vereinnahmt – mal wieder – Gernika

Die Zentralregierung in Madrid will das Gedenken an die Zerstörung der baskischen Stadt Gernika durch die deutsche Legion Condor 1937 vereinnahmen. Ihre geschichtspolitische Glaubwürdigkeit bleibt dabei auf der Strecke.

Interpretationen von Picassos “Guernica” prägen die Kunstwelt. Nur das Orginal
darf das Reina Sofia-Museum in Madrid nicht verlassen. (© Ingo Niebel, 2007)

Das politische Highlight bei der gestrigen Gedenkveranstaltung setzte Spaniens Präsidialamtsminister Félix Bolaños (PSOE): Mit ihm nahm zum ersten Mal seit 1978 ein Kabinettsmitglied der spanischen Zentralregierung an der offiziellen Gedenkfeier auf dem Friedhof teil. Bolaños ließ es sich nicht nehmen, das Blumengebinde zu Ehren der Opfer der deutschen Bombardierung selbst an der Gedenkhalle abzulegen.

Seine Teilnahme nutzte er, um kundzutun, dass seine Regierung Gernika zum ersten „Erinnerungsort“ ernennen werde. Das geschieht auf der Grundlage des Gesetzes des Demokratischen Erinnerns. Die linke Minderheitskoalition seines Premiers Pedro Sánchez (PSOE) hatte es 2022 verabschiedet. Bolaños begründete die Erhebung Gernikas mit der „willkürlichen Bombardierung“ der Stadt am 26. April 1937.

An jenem Montag legten die Bomber der deutschen Legion Condor die symbolträchtige Stadt mit dem ersten großflächigen Luftbombardement in Schutt und Asche. Italienische und spanische Flieger leisteten Schützhilfe. Der südafrikanisch stämmige Kriegsberichterstatter George L. Steer machte die deutsche Verantwortung für den ersten Luftangriff dieser Art auf die schutzlose Zivilbevölkerung international bekannt.

Die Propaganda der faschistischen Putschgenerals Francisco Franco dekretierte, das Gernika von den „Roten“ in Brand gesetzt worden sei. Nach seinem Sieg wurde die Lüge Staatsdoktrin. Während die Bundesrepublik Deutschland mit dem Bau einer Sportstätte und dem Brief des Bundespräsidenten Roman Herzog 1997 Gesten der Wiedergutmachung und der Versöhnung zeigte, duckt sich das aus dem Franco-Staat hervorgegangene Königreich von Spanien weg.

Geschichtsklitterung statt Verantwortung

Die Regierung Sánchez stellt dabei keine Ausnahme dar. Sie versucht, Gernika in ihrem Sinne zu vereinnahmen. Sánchez‘ Sozialistische Spanische Arbeiterpartei (PSOE) vertritt die Ansicht, die aktuelle parlamentarische Monarchie hätte nichts mit dem Franco-Regime gemein. Diese geschichtspolitische Willkür widerspricht den historischen Fakten, den verfassungsrechtlichen und institutionellen, biologischen und politischen sowie ökonomischen und gesellschaftlichen Kontinuitäten. Sie charakterisiert aber die von der PSOE propagierte neue Geschichtslosigkeit. Bolaños‘ Anwesenheit in Gernika gehört dazu. Sie soll kaschieren, dass die Regierung Sánchez nicht bereit ist, die Mitverantwortung des spanischen Staates bei der Bombardierung einzugestehen.

Dementsprechend twitterte Bolaños’ Präsidialamtsministerium zu seinem Besuch: „Es ist wichtig, der Opfer zu gedenken und ihr Andenken zu ehren, um weiter in Freiheit und Würde fortzuschreiten.“ Der Tweet endet zwar mit der Devise der antifranquistischen Erinnerungsbewegung „Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung“; fügt dem aber hinzu: „Garantie der Nichtwiederholung“.

Vor Ort vergrößerte Bolaños die Distanz zwischen dem historischen Ereignis und seiner Regierung. Laut der Online-Zeitung publico.es sagte er: „Die Putschisten gegen die legitime Regierung im Jahr 1937 bombardierten willkürlich die wehrlose Zivilbevölkerung in Gernika in der selben Art und Weise wie sie Durango, Eibar, Otxandio und weitere Orte im Baskenland und im Rest Spaniens bombardierten.“ „Das brutale Bombardement verfehlte sein eigentliches Ziel“, stellte er fest. Das wäre seiner Meinung nach gewesen zu verhindern, dass Spanien „das wurde, was es ist, eine fortgeschrittene, europäische Demokratie basierend auf Werten und Rechten“.

Dokumentarisch belegbar ist, dass die Legion Condor im November 1936 den Auftrag erhielt, rasch den Sieg für Franco und ausschließlich militärisch zu erkämpfen. Der Angriff auf Gernika erfolgte aufgrund taktischer Überlegungen. Psychologisch diente er dem Ziel, die Moral der Verteidiger des autonomen Baskenlandes durch die Bombardierung ihres Nationalheiligtums zu untergraben. Ob nach dem gewonnenen Bürgerkrieg die republikanische Regierung heutigen Demokratieansprüchen gerecht würde, liegt im Bereich der historischen Fiktion.

Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit

Selbst das Spanien des 21. Jahrhundert entspricht nicht europäischen Maßgaben. Die Defizite bei der Reform des Selbstverwaltungsorgans der Richterschaft (CGPJ) lassen Brüssel an der Rechtsstaatlichkeit im Königreich zweifeln. Außerdem erhalten Menschen aus dem Baskenland und Katalonien in politischen Verfahren ihnen zustehendes Recht vielfach erst von EU-Gerichten.

Daraus läßt sich ableiten, dass das Recht im Spanien dazu dient, das politische System von 1978 vor jeglicher Reform zu bewahren. Bis dato wurde die Verfassung nur zweimal (1922, 2011) geändert. In Deutschland passten 60 Änderungsgesetze zwischen 1949 und 2022 mehr als 200 Grundgesetz-Artikel den Veränderungen in Politik und Gesellschaft an. Dem verweigern sich in Spanien die führenden Parteien PSOE und die postfranquistischen Volkspartei (PP).

Bolaños’ Polit-Gerede im Wahlkampfjahr

So ist dann Bolaños‘ Ruf nach „Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung“ nur Polit-Gerede im Wahlkampfjahr: „Gerechtigkeit“ bedingt, dass Täter der Franco-Diktatur (1936-1977) belangt werden. Sie stehen aber unter dem Schutz des Amnestie-Gesetzes von 1977. Es aufzuheben, bedarf des politischen Willens, der der PSOE fehlt. „Wahrheit“ wird es nicht geben, solange Gesetze verhindern, dass Taten gerichtskonform ermittelt und geahndet werden. Ohne Expertise seitens der Geschichtswissenschaft wird das kaum funktionieren. Nur auf diesen beiden Grundbedingungen wird die „Wiedergutmachung“ gedeihen können. Hierzu müssten Regierung oder Parlament die Initiative ergreifen und das Verschlusssachengesetz ändern. Des Weiteren benötigen Wissenschaft und Öffentlichkeit Zugriff auf die Archive von Polizei und Militär sowie auf die Privatarchive der Granden des Franco-Regimes.

Der Unwille, die Franco-Diktatur gründlich aufzuarbeiten, kommt mit einem innen- wie außenpolitischen Preis daher: Da die Monarchie nicht mit der Diktatur gebrochen hat, kann Madrid nicht in Berlin auf Wiedergutmachung für den völkerrechtswidrigen Einsatz der Legion Condor pochen. Gernika ist dabei nur ein Kriegsverbrechen unter vielen, wenn gleich das bekannteste, das Deutsche im spanischen Bürgerkrieg begingen.

Solange Madrid nicht den Bruch durch einen Systemwandel vollzieht, bleibt Bolaños „Garantie für Nichtwiederholung“ eine Worthülse: Letztere bedingt, dass das Wiederholen der Franco-Diktatur unter Strafe stünde. Da dies bisher unterbleiben ist, steht einer Rückkehr zur Diktatur juristisch nichts im Wege. Deren Werte und Ziele dürfen in Spanien – im Gegensatz zum Nationalsozialismus in Deutschland – weiter hochgehalten und eingefordert werden. Einige davon haben sogar Verfassungsrang wie zum Beipsiel die territoriale Integrität Spaniens oder seine unauflösliche nationale Einheit. Darüber wacht, wie einst bei Franco, die Armee. Im übrigen besteht die faschistische Falange-Partei fort; die PP und ihre rechte Abspaltung Vox machen keinen Hehl daraus, woher sie kommen und wohin sie marschieren.

Verpasste Chance

In Gernika haben Bolaños und Premier Sánchez die Chance verpasst, ein Zeichen zu setzen. Sie hätten allen baskischen Forderungen nach Wiedergutmachung die Grundlage entziehen können: Dafür hätte es gereicht, die Verlegung von Picassos Monumentalgemälde „Guernica“ in Aussicht zu stellen.

Die Geste hätte nicht nur eine geschichtspolitische Zäsur dargestellt, sondern ebenfalls wahltaktischen Charakter in der Autonomen Baskischen Gemeinschaft gehabt. Dort regiert der PSOE-Landesverband – die Sozialistische Partei des Baskenlandes (PSE) – als Juniorpartner mit der christdemokratischen Baskischen Nationalpartei (PNV). Die PNV plant, in Gernika eine Filiale des Bilb(a)oer Guggenheim-Museums zu bauen. 2022 hatte sie die Regierung Sánchez zu einer Geste der Wiedergutmachung aufgefordert.

Geschichtslosigkeit der PSOE

Stattdessen echauffierte sich PSE-Generalsekretär Eneko Andueza gestern auf Twitter: „Ich weise mit Nachdruck jeglichen plumpen Versuch der Geschichtsmanipulation mit wenig ernstzunehmenden Forderungen nach Entschuldigung zurück, die sich an eine Regierung richten, die Opfer des faschistischen Aufstandes von 1936 und Erbe der demokratischen Legalität der Republik ist.“ Obwohl Anduezas Geschichtslosigkeit der PSOE-Linie entspricht, setzt er dennoch neue Maßstäbe.

Die Rückkehr zum republikanischen Staatswesen stand nach dem Tod Francos 1975 weder bei den Entscheidungsträgern in Madrid noch in Washington oder Bonn, London oder Paris zur Debatte. Dort favorisierte man die von Franco eingestielte Monarchie – in der parlamentarischen Variante – als Kompromisslösung mit den Reformfranquisten. Die Optionen, das faschistische Regime fort- oder die Republik wieder einzuführen, hätten zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Hinterland von NATO und EG geführt. Um dem vorzubeugen, brachte die Sozialistische Internationale die PSOE auf Linie. Dabei halfen maßgeblich Willy Brandt (SPD) und der Venezolaner Carlos Andrés Pérez (AD). Dank ihnen durfte der junge Anwalt Felipe González den Namen und die Symbolik der PSOE fortführen. So booteten sie den radikalen PSOE-Flügel aus, der die Republik wiedereinführen wollte.

Angesichts der historischen Fakten macht sich die PSOE mit ihrem geschichtspolitischen Eiertanz in Gernika unglaubwürdig: Wer sich heute in die Kontinuität der II. Spanischen Republik stellt, verpasst der von Franco vorgegebenen Monarchie ein Verfallsdatum. Wenn die PSOE versucht, Gernika nur mit ihrem propagierten Geschichtsnarrativ zu vereinnahmen, dann greift sie, wenn gleich politisch diametral entgegengesetzt, ein Mittel des franquistischen Madrids auf. Die Kommunalwahl im Mai wird zeigen, ob sie so endlich wieder einen Sitz im Rathaus von Gernika ergattern kann.

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