EU-Kommission will mit Verboten in die “Schlacht der Narrative” ziehen

EU-Kommission will mit Verboten in die “Schlacht der Narrative” ziehen

In Russland droht denjenigen Gefängnis, die die “militärische Spezialoperation” gegen die Ukraine “Krieg” nennen. Aber auch die EU-Kommission will sich mit Verboten für ihre “Schlacht der Narrative” wappnen.

Der spanische Schriftsteller des 16. Jahrhunderts Miguel de Cervantes ließ einst seinen Don Quijote gegen Windmühlen reiten. Sein Protagonist sah darin Riesen, die er niederkämpfen wollte. Sein Landmann Josep Borrell, kein Hidalgo, aber seit 2019 Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Kommission tut es ihm gleich. Zwar nimmt er es nicht mit Windrädern der Gegenwart auf, wohl aber mit der schwergreifbaren Desinformation.

Erst vor einer Woche griff die EU-Kommission tief in die mediale Selbstbestimmung ihrer Mitgliedsstaaten ein, indem sie die Ausstrahlung von Russia Today (RT) und Sputnik unterband. Nach dem Schlag gegen die beiden russischen Staatsmedien zielt sie auf “maliziöse Desinformationsakteure”. Um wen oder was genau es sich dabei handeln könnte, sagte Borrell am Dienstag vor dem EU-Parlament nicht. Hauptsache ist, dass der böse Drache aus dem Märchen auf den Namen “Desinformationsakteur” hört. Die Rolle der zu rettenden Jungfrau besetzte der Spanier am Weltfrauentag mit der “Information”. In ihr sieht er ein “geschütztes Gut”, das Gefahr läuft, in die Klauen von “Desinformationsakteuren” zu fallen. Aber Rettung naht, denn Borrell mimt auch gleich den edlen Ritter.

EU-Vizekommissionsprsäident Borrell will “Schlacht der Narrative” schlagen. (Screenshot aus der Aufzeichnung seiner Rede.)

So wie Don Quijote die Riesen sah und sich in den Kampf stürzte, preschte auch der Vizekommissionspräsident los. Dabei ging ihm nicht darum, wie viele Fake News Moskau auf die EU regnen läßt. Vielmehr soll die EU-Kommission ermächtigt werden, die alleinige Lufthoheit über den Köpfen der EU-Bürger:innen zu erringen. Sie und ihr Vize wollen entscheiden, welches Ereignis als (Des-)Information gewertet werden darf. Sie möchten Medienschaffenden vorgeben, ob sie über eine militärische Spezialoperation zu berichten haben oder über einen Angriffskrieg.

Horrorszenario “Russen in Katalonien”

Wie schon bei der EU-Außenpolitik verfolgt Borrell dabei das innerspanische Ziel, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung zu diskreditieren. Seit gut fünf Jahren versucht die gesamtspanische Politik, ihr Versagen in Katalonien mit einer angeblichen Einmischung Russlands zu kaschieren. Dazu greift sie selber gerne auf anti-russische Feindbilder aus der Zeit der faschistischen Franco-Diktatur zurück (1936/39-1975/78) zurück.

Aktuell versucht Madrid aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, ein Framing herzuleiten. Es soll den “Separatismus” der beiden abtrünnigen Republiken in der Ostukraine mit den Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien und dem Baskenland gleichsetzen. In Spanien würde man sich freuen, wenn sich die Formel “Separatismus/Unabhängigkeit = Krieg” europaweit implantieren liesse. Ins Madrider Konzept passt, dass Warschau den baskischen Journalisten Pablo González der Spionage für Russland beschuldigt. Kein Wunder, dass das spanische Außenministerium nur das minimal Nötigste tut, um die Rechte seines verhafteten Bürgers zu wahren.

Für die Wahrung der Informations- und Pressefreiheit schreitet die spanische Regierung von Pablo Sánchez eh nicht ein. Zusammen mit der Meinungsfreiheit hält das spanische Königreich diese Prinzipien überwertet. Anders erklärt sich nur schwerlich, warum seine Justiz die Rapper “Valtònyc” und Pablo Hasel als antimonarchistische Dissidenten verfolgt. Letzterer sitzt bereits im Gefängnis; ersterer erhofft sich den Schutz durch die belgische Justiz, der ihm in der Heimat versagt bleibt.

Wieder einmal sind es nicht Russen, die sich als Borrells Hauptfeind entpuppen, sondern er selbst. Bei seinem Auftritt vor dem EU-Parlament lieferte er Moskau die nicht-tödliche Munition für den Informationskrieg mal wieder frei Haus.

“Ich bin nicht der Wahrheitsminister”

“Wie versuchen gerade nicht zu entscheiden, was wahr ist oder was falsch ist. Ich bin nicht der Wahrheitsminister; wir haben keine Wahrheitsminister”, stellte der spanische Sozialdemokrat am Dienstag fest. “Worauf wir uns konzentrieren müssen, sind ausländische Akteure, die absichtlich und koordiniert versuchen, unsere Informationsumgebung zu manipulieren, um ihre eigenen Ziele zu erreichen und um uns zu verletzen”, führt er weiter aus.

Die Notwendigkeit für dieses Handeln leitet er von “Hunderten von Desinformationsfällen in europäischen Ländern: Deutschland und das Vereinigte Königreich, Frankreich, Italien und Spanien” ab. Diese zielten auf unterschiedliche Probleme, “wie Wahlen, Impfungen, den Brexit oder sezessionistische Bewegungen in einigen europäischen Mitgliedsstaaten”, führt der EU-Chefdiplomat mit Verweis auf die Webseite EUvsDisinfo aus. Mit diesem Allgemeinplatz stellt er unabhängigkeitsbewegte Schotten, Nordiren, Basken, Katalanen und Korsen unter den Generalverdacht, von Moskau gesteuert zu sein.

“Schlacht der Narrative”

Damit begründet Borrell seinen “neuen Mechanismus”. Dieser wird “es uns erlauben […], diese malignen Desinformationsakteure zu sanktionieren.” Selbiger werde “Teil einer größeren Werkzeugkiste sein, an der wir gerade arbeiten, um unsere Handlungsfähigkeit weiter zu vergrößern.” Der Vizepräsident bleibt dennoch vage. Er nennt weder die “Desinformationsakteure” beim Namen noch sagt er, an welche Instrumente er genau denkt.

Für sich als Hauptverantwortlichen der EU-Außenpolitik nimmt er jedoch in Anspruch, die “Informationsschlachten” führen zu wollen. “Zu Beginn der Pandemie habe ich den Satz ‘Schlacht der Narrative’ geprägt”, führt Borrell aus. Da er damit keinen Satz geprägt hat, sondern bestenfalls einen Kampfbegriff, legt er nach. Dem Klischee vom alten, weissen, rassistisch denkenden Mannes folgend erklärt der Sozialdemokrat: “Diese Schlacht der Narrative wird jeden Tag wichtiger. Schauen Sie, was gerade in Afrika passiert, was glauben Sie? Leute werden beeinflusst durch das, was man ihnen erzählt. Und letztendlich geht es auf die politische Ebene und schließlich verwandelt es sich in Stimmen in den internationalen Institutionen.”

Der Begriff “Narrativ” meint, wenn man Wikipedia folgen möchte, hierzulande eine etablierte Erzählung, die mit einer Legitimierung versehen ist. Borrell geht nicht um Objektivität in der Berichterstattung; er will Instrumente haben, mit denen er seine sinnstiftende Erzählung auf der Basis von Werten und Emotionen etablieren kann. Wie dieses Narrativ aussehen wird, sagt Borrell nicht.

Borrells Untertanendenken

Dem Spanier mangelt es nicht nur an Respekt gegenüber den Menschen des Nachbarkontinents; er hält auch die Bürger:innen der EU für leicht manipulierbar. Die Passage drückt er unerwartet in seiner Muttersprache aus. Warum er aus dem Englischen ins Spanische wechselt, erklärt er in seiner Rede nicht. Vielleicht wirft er diese idiomatische Nebelkerze, damit nicht jeder mitbekommt, wessen Geistes Kind er ist.

“Die Information ist der Brennstoff der Demokratie. Die Bürger handeln als Bürger aufgrund der Information, die sie erhalten. Aufgrund dessen, was sie wissen, wie sie die Realität interpretieren, beurteilen sie ihre Regierenden und treffen ihre Wahl”, doziert Borrell. “Wenn die Information schlecht ist, ist die Demokratie schlecht”, meint der Spanier. “Wenn die Information systematisch einseitig dargestellt und durch die Lüge vergiftet wird, dann können die Bürger keine genaue Kenntnis der Realität haben und ihr politisches Urteil ist tendenziös.”

Wer zum Beispiel Borrell für einen schlechten Politiker hält, muss demnach falsch informiert sein oder ist gar ein potentieller “Desinformationsakteur”. Gemäß der Logik des Vizepräsidenten soll die EU den Gütegrad der Information zertifizieren. Für Borrell gleicht die journalistische Berichterstattung einem Industrieprodukt. Letzteres lässt sich normieren. Wer die Berichterstattung normieren will, öffnet der Zensur Tor und Tür. Da “zensieren” ein unschönes Wort ist, hilft der Euphemismus der “homogenisierten Berichterstattung” aus der Klemme. Das mag dem einen oder der anderen nach Orwells Big-Brother-Sprech klingen. Tatsächlich hat jedoch Borrells Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) den Terminus geprägt.

“Homogenisierte Berichterstattung” a la española

Vor vierzig Jahren führte sein Parteifreund und Premier Felipe González die “homogenisierte Berichterstattung” in Spanien ein. Sie stellte eine Säule im Anti-Terrorkampf dar. In der Folge wurde der politische Konflikt mit dem Baskenland auf den “Terrorismus” reduziert. Das gespamtspanische Narrativ kennt nur “Gute” (Polizei, Militär) und “Schlechte”(Untergrundorganisation ETA (Baskenland und Freiheit) plus die heterogene linke Unabhängigkeitsbewegung). Folter im Polizeigewahrsam wurde quasi als “Lügenmärchen” der ETA disqualifiziert, wenn die Presse sie überhaupt erwähnte. Ab einem gewissen Punkt mussten die Medienschaffenden sich entscheiden, auf welcher Seite sie standen. Eine objektive Berichterstattung war unerwünscht. Hier liegt eine Ursache für die Glaubwürdigkeitskrise des gesamtspanischen Journalismus.

Diese “homogenisierte Berichterstattung” à la española will Borrell jetzt für die EU. Wie diese aussehen soll, skizzierte er in seiner Rede. Dabei verwies er auf den bereits erwähnten EU-eigenen Blog EUvDesinfo. Dieser analysiert die Berichterstattung russischer Staatsmedien. Im Blickpunkt stehen jedoch Nachrichten, die sich primär an ein russischsprachiges Publikum richten.

Selbstverständlich findet sich auf dem Blog ein Eintrag, der sich mit der russischen Wahrnehmung des Unabhängigkeitsreferendums in Katalonien (1.10.2017) auseinandersetzt. “Madrid wurde angeklagt, einen künstlichen Konflikt geschaffen zu haben und die Polizeiaktionen wurden als ‘brutal” und ‘absolut sinnlos” dargestellt”, heißt es dort. Dem Duktus nach teilen die Autoren die russische Sichtweise nicht. Ein Blick in die deutsche Presse zeigt aber, dass deren Wahrnehmung nicht wesentlich von der russischer Medien abwich.

Die Tageszeitung Die Welt gehört zu den Verfechtern des spanischen Einheitsstaates. Sie ist jeglicher Sympathie für “Separatisten” unverdächtig. Trotzdem nahm sie “überbordende Polizeigewalt” am Tag des Referendums wahr. Die spanische Zentralregierung hatte die unverbindliche Abstimmung verboten. Die extra nach Katalonien entsandten Polizeitruppen sollten sie unter allen Umständen verhindern. Der Plan scheiterte an der gut organisierten Zivilgesellschaft. “Mehr als 800 Menschen sollen bei Auseinandersetzungen mit Polizisten verletzt worden sein”, meldete die liberale Wochenzeitschrift Die Zeit. Selbst die spanienfreundliche Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) schrieb von “Polizeigewalt”. “Rund 850 Bürger wurden verletzt, nachdem Polizisten Schlagstöcke und Gummigeschosse eingesetzt hatten”, stellte sie fest.

Information, ein “geschütztes Gut”?

Vor diesem Hintergrund erweckt Borrell den Eindruck, als wollten er und die EU-Kommission die Zensur durch die Hintertüre einführen. Seine Vorstellung von einem nur fragenden, aber nicht nachfragenden Journalisten hat er im Interview mit der Deutschen Welle verewigt. Hofberichterstattung hat jedoch nur im entferntesten mit Journalismus zu tun. Mediale Berichterstattung kann nicht innerhalb eines “Mechanismus” oder einer “Werkzeugbox” gedeihen: Sie benötigt Freiräume, in denen Medienschaffende frei arbeiten können. Ob aus einer Information eine Nachricht wird, bestimmen Menschen in Redaktionen. Die Reaktion ihrer Zielgruppe spielt ebenfalls eine Rolle. Geistiges Egentum lässt sich schützen, aber nicht die Information. Selbständiges Denken erreicht man nicht, indem man Menschen gelabelte Informationen aufdrückt. Es ist ein Produkt, das der Bildung entspringt. Hierzu gehört auch ein qualitativ hoher und unabhängiger Journalismus. Hinzu kommt Medienkompetenz, die ebenfalls gelehrt werden will – an den Schulen, versteht sich.

Dass Borrell zu verbaler Inkontinenz neigt, ist nichts Neues. Ihn in Sachen freier Berichterstattung ohne Gegenrede gewähren zu lassen, hiesse den EU-Skeptikern der Neuen Rechten das Feld zu überlassen. Sie und die Spindoctors der russischen Informationspolitik können sich über die Vorlagen, die ihnen Borrell frei Haus liefert, nur freuen. Verfechter:innen der europäischen Idee mit ihren Grundwerten wie der Presse-, Meinungs- und Information haben hingegen allen Anlass zur Sorge.

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