Die Grundfesten des spanischen Königreichs erodieren. Die viertgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union befindet sich auf dem Weg zum »failing state«, aber Politik und Medien schauen gen Ukraine. Und trotzdem erwischte Spaniens Staatskrise Bundeskanzlerin Angela Merkel noch auf ihrer letzten Pressekonferenz vor dem Sommerurlaub.
Ein Journalist fragte, wie sie zur verfassungswidrigen, aber demokratisch legitimen Volksbefragung stehe, bei der sich im November acht Millionen Katalanen zu einem eigenen Staat äußern sollen. »Wir stehen zur territorialen Integrität aller Staaten. Das ist etwas völlig anderes als die Unabhängigkeit und die Selbstgestaltung von Regionen«, antwortete die Regierungschefin. Im übrigen habe sie nicht vor, sich in die innerspanische Diskussion einzumischen. Die Regierung von Premier Mariano Rajoy und seine postfranquistische Volkspartei (PP) freuten die nichtssagenden Worte aus Berlin; die ihnen nahestehenden Medien schlachteten sie aus, während die Katalanen weiter ihren Weg gehen.
In Deutschland interessiert, wenn überhaupt, die Finanz- und Wirtschaftskrise, die das 40 Millionen Einwohner zählende Land seit 2009 fest im Griff hat. Und Einzelschicksale der jungen Spanier, die angesichts von 24,5 Prozent Arbeitslosigkeit auch hierzulande ihr Heil suchen. Die weiteren Krisen, die die Fundamente des spanischen Staates unterspülen, werden dabei gerne übersehen. Ihre Gefahr entspringt der Summe aller Einzelkrisen, die sich durch Rajoys Politikunfähigkeit noch verstärken.
Die Grundkrise der parlamentarischen Monarchie, wie sie seit 1978 existiert, resultiert daher, daß Spaniens Faschismus weder sein Stalingrad noch sein Nürnberg erlebte, sondern reformiert wurde. Die Täter der Diktatur von Francisco Franco (1936–1975) gingen straffrei aus, ihre Opfer müssen die argentinische Justiz um Hilfe anrufen.
Bisher war es Aufgabe von König Juan Carlos I. mittels seines Prestiges als Francos Protegé und vorgeblicher »Demokrat« die beiden Spanien unter seiner Krone zu halten. Diese Klammerfunktion verlor er 2011, als er mitten in der Wirtschaftskrise einer Safari frönte und gleichzeitig noch gegen Tochter und Schwiegersohn wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder ermittelt wurde. Die facettenreiche Krise im Herrscherhaus soll jetzt der Sohn als neuer König Felipe VI. lösen.
Aber anstatt neue Akzente zu setzen, präsentierte der Thronfolger sich bei der Proklamation in der Uniform des Oberbefehlshabers der Streitkräfte und ließ sich dann in Francos offenem Rolls-Royce durch Madrid kutschieren. Die Glaubwürdigkeitskrise seines Hauses führte er kurz darauf fort, als seine Leibwächter gegen zwei Journalisten vorgingen, die ihn bei einem privaten Abend-essen mit Freunden entdeckt hatten.
Ebenso politisch unfähig zeigt sich die Regierung Rajoy, wenn es darum geht, den Unabhängigkeitsbewegungen im Baskenland und in Katalonien den Wind argumentativ aus den Segeln zu nehmen. Den Basken gegenüber verweigert Rajoy die konstruktive Mitarbeit an der Lösung des politischen Konflikts. Er will »Sieger und Besiegte«, so ein franquistisches Diktum, und keine Verhandlungslösung wie in Nordirland. Den Katalanen droht Rajoy, ihre Autonomie aus- und das Militär einzusetzen, wenn sie an ihrer Volksbefragung festhalten.
Diese Konfrontationspolitik befeuert weitere Krisen. Die Bürger vertrauen weder König noch Parteien und auch nicht mehr den Gewerkschaften, die alle im Korruptionssumpf versinken. Die Vertrauenskrise gebar bei der Europawahl eine Parteienkrise, da die beiden »Volksparteien«, die PP und die Sozialistische Spanische Arbeiterpartei (PSOE), unter 30 Prozent rutschten. Die Vereinigte Linke (IU) konnte zwar vom Absturz der PSOE profitieren, aber links von ihr etablierte sich die Bürgerbewegung PODEMOS (deutsch: wir können). Ihr EU-Parlamentarier Pablo Iglesias versetzt das politische Establishment in helle Aufregung, weil er eine wachsende Kraft anführt, die das traditionelle Parteiensystem sprengen kann und das Land verändern will. Die moralisch-ethische Krise erreichte vorläufig ihren Gipfel, als führende PP-Politiker oder ihre Sprößlinge nach Verkehrsdelikten meinten, sie dürften vor deren Ahndung durch die Polizei flüchten.
Krisenmacher gibt es viele; jemanden, der sie löst, sucht man vergebens.
Ingo Niebel ist Historiker und Journalist. Zuletzt erschienen von ihm das Buch »Gebildet … freier baskischer Staat. Das Baskenland im Spanischen Bürgerkrieg 1936/37« (Pahl-Rugenstein, 500 Seiten, 29,90 €).
Erschienen in Ossietzky 16/2014
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