Medienpolitische Heuchelei in der EU

Medienpolitische Heuchelei in der EU

Die Bilder vom Krieg Russlands gegen die Ukraine verdecken medienpolitische Heucheleien. Die EU beginnt die Presse- und Informationsfreiheit zu beschränken.

Der Livestream von RT DE ist seit Mittwoch in der EU nicht mehr verfügbar (Screenshot)
Mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine hat Russlands Präsident Wladimir Putin die Kriegspropaganda nicht neu erfunden, wenngleich er sie mit neuen Vokabeln bereichert hat. So wie die gemeine “Lüge” sich schon seit längerem als “fake news” kleidet, so verwenden neuerdings die im Land noch erscheinenden Medien anstelle von “Invasion” das platzraubende Konstrukt “militärische Spezialoperation”.

Putins Überfall auf das Nachbarland beflügelt nicht nur die Kreation neuer Propagandabegriffe, er läßt auch die EU-Mitgliedsstaaten rotieren. Eine Kehrtwende nach der anderen führt zu Entscheidungen, die bis vor einer Woche noch undenkbar waren. Der allerorts gezeigte Aktionismus soll das außenpolitische Versagen in Osteuropa kaschieren. Aufrüstung hier, Waffenlieferungen da, nichts scheint politisch mehr unmöglich zu sein. Und das faktische (Sende-)Verbot von zwei Medien auch nicht.

Putins neuerlicher Einsatz militärischer Gewalt, um dem Gegner seine Politik aufzudrücken, hat zu einem Klima der Angst innerhalb der EU erzeugt. Unter dem Eindruck des für unöglich gehaltenen russischen Angriffskrieges gegen einen souveränen Staat in Europa machten EU-Kommssionpräsidentin Ursula von der Leyen und ihre Außenbeauftragter Josep Borrell der Ukraine unbedachte Versprechungen, die sie teilweise zurücknehmen mussten. Das neuerliche Versagen verdeckten sie mit dem Ausstrahlungsverbot zweier staatseigener russischer Medien, Russia Today (RT) und Sputnik.

In den Reigen militärischer Aufrüstungsprogramme diesseits des neuen Eisernen Vorhangs, Waffenlieferungen an die Ukraine, Wirtschaftssanktionen gegen Russland passt das Verbot zur allgemeinen Stimmungslage. “Wer wie RT und Sputnik Propaganda und Desinformation in Europa verbreitet, missbraucht die Presse- und Meinungsfreiheit. Es ist gut, dass die EU dagegen vorgehen will“, zitiert das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) den DJV-Bundesvorsitzenden Frank Überall.

Daran, die russische Propaganda mit dem Sachverstand westeuropäischer Wissenschaft und Medien zu kontern, schien in Brüssel niemand in den Sinn zu kommen. Stattdessen wurde übers Wochenende mit heißer Nadel an einem Verbot genäht, das einen gefährlichen Präzedenzfall für die Informations- und Pressefreiheit in der EU schafft.


Von der Leyen avisiert den Bann von Russia Today und Sputnik in der EU.

Den Weg dorthin kündigten von der Leyen (CDU) und Borrell (PSOE) am Wochenende an. “Die staatseigenen Russia Today und Sputnik und ihre Subunternehmen werden nicht länger in der Lage sein, ihre Lügen, um Putins Krieg zu rechtfertigen, zu verbreiten”, sagte die Deutsche auf Englisch und fügte hinzu: “Wir entwickeln gerade die Werkzeuge, um ihre toxische und schädliche Desinformation in Europa zu bannen.” Der Spanier sekundierte: “Wir bereiten gerade die Massnahmen vor, die nötig sind, der Verbreitung dieser Medien in der Europäischen Uno vorzubeugen.” Die EU-Kommission begründete ihrerseits den Bann der beiden russischen Sender damit, dass sie nicht gegen Medien, sondern gegen Propagandakanäle vorgehe.

Am Mittwoch ließ sie ihren Worten die angekündigte Tat folgen: Satelliten- und Kabelanbieter dürfen RT und Sputnik nicht mehr ausstrahlen; Soziale Netze haben die Konten der beiden Unternehmen geblockt. Deren Webseiten sind nur noch durch technische Umwege zu erreichen. Dennoch erklärte die EU-Kommission: “Freier Zugang zur Information ist ein Grundrecht, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschrenrechte und in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist: Die EU wird weiterhin Medienfreiheit und Pluralismus überall auf der Welt unterstützen.”

Von der Leyen: “In Kriegszeiten sind Worte wichtig” (Tweet vom 2.3.2022)

Während Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Grüne) das Verbot von RT und Sputnik rechtfertigt, äußerten sich die Grünen-Medienpolitikerin Tabea Rößner und der medienpolitische Sprecher der FDP-Fraktion Thomas Hacker im Gespräch mit der Tageszeitung Die Welt vorsichtig kritisch. Sie befürchten, dass Moskau den Medienbann im Propagandakrieg gegen die EU verwenden könnte.

Medienpolitische Heuchelei in Spanien

Medienpolitisches “friendly fire”: Pedro Sánchez gibt der EU-Kommission Schützenhilfe
Wie üblich, wenn Politiker:innen eine schwache Position verteidigen müssen, holen sie sich Beistand. Vielleicht deshalb meldete sich Spaniens sozialdemokratischer Premier Pedro Sánchez (PSOE) zu Wort, um seinem Parteigenossen Borrell und dessen Chefin Rückendeckung zu geben: “Putin ist eine Person, die unabhängige Medien verfolgt und schließt, der die Demokratie nicht respektiert und vorgibt, diese Werte nach aussen zu tragen.” Mit ein paar semantischen Veränderungen passt diese Aussage auf Spanien und dessen ehemaligen Premier José María Aznar von der postfranquistischen Volkspartei.

1998 bestand der politische Wille, die baskische Tageszeitung Egin und deren Radiosender Egin Irratia zu schließen. Beide Medien gehörten zur heterogenen linken Unabhängigkeitsbewegung im Baskenland. Ihre Berichte über Staatsterrorismus, Folter im Polizeigewahrsam und Korruption missfielen der Politik. “Wirtschaftssanktionen”, wie das widerrechtliche Verweigern öffentlicher Anzeigengelder, konnten die Zeitung nicht in die Knie zwingen. Egin wegen „Verherrlichung des Terrorismus“ verbieten zu lassen, hätte einen langwierigen Prozess mit unsicherem Ausgang vor dem spanischen Verfassungsgericht bedingt. Viel schneller und wirksamer erschien es daher, den Verlag Orain, zu dem Egin und Egin Irratia gehörten, wegen angeblicher Geldwäsche zwecks Finanzierung der Untergrundorganisation ETA (Baskenland und Freiheit) zu schließen. Das Vorgehen des Sondergerichts für Terror- und Drogendelikte, Audiencia Nacional, war illegal, wie später eine höhere Instanz urteilte, erfüllte aber den gewünschten Zweck: Zeitung und Radio waren zum Schweigen gebracht.

2003 wiederholte die Audiencia Nacional dasselbe Verfahren, als sie die einzige vollständig auf Baskisch erscheinende Tageszeitung Euskaldunon Egunkaria schloss. Auch dabei war der politische Wille der Regierung Aznar ausschlaggebend. Die Postfranquisten griffen so jenen Teil der baskischen Gesellschaft an, der den Freistaatsplan ihres christdemokratischen Ministerpräsidenten Juan José Ibarretxe (PNV) mittrug. Im Gegensatz zu Egin gehörte Egunkaria jedoch nicht zur linken Unabhängigkeitsbewegung. Daher erhielt sie auch öffentliche Subventionen seitens der Baskischen Regierung und anderer Institutionen. Polizei, Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsrichter sahen das dennoch anders. Allein die Forderung, Baskisch möge eine gleichberechtigte Amtssprache neben dem Spanischen sein, reichte ihnen aus, die Zeitung als Befehlsempfängerin der ETA zu betrachten. Vier der zehn verhafteten Verlagsverantwortlichen und Redakteure zeigten Folter im Polizeigewahrsam an. Sieben Jahre nach der Schließung erhielten sie und die übrigen Angeklagten einen Freispruch erster Klasse.

Medienpolitisches “friendly fire” aus Spanien

Diese Ereignisse strafen Sánchez und Borrell der Heuchelei. Vielmehr wirken die wohlfeilen Worte des Premiers wie “friendly fire”, das die eh schwache Position der EU-Kommission zerschießt. Letztere verschloss 1997 und 2003 die Augen vor dem Madrider Angriff auf die Presse- und Informationsfreiheit im eigenen Land, heutzutage läßt sie Warschau gewähren: Die polnische Exekutive kann den baskischen Journalisten Pablo González in einem Gefängnis verschwinden lassen, ohne dass Brüssel auf dessen Grundrechte als EU-Bürger pocht. Dazu gehören wenigstens der Beistand durch einen Vertrauensanwalt und das Recht zu wissen, was genau die Justiz dem Beschuldigten vorwirft. Einen Journalisten der Spionage zu bezichtigen, wie es im Fall González gerade geschehen ist, klingt bei der Vorgeschichte an den Haaren herbeigezogen. Im Übrigen ist die Verletzung zahlreicher Grundrechte dieses EU-Bürgers hausgemacht und nicht etwa das Ergebnis russischer Desinformation.

Den Gegner – in diesem Fall RT und Sputnik – zu ignorieren, indem man ihn im wörtlichen Sinne von der Bildfläche verschwinden lässt, ist höchst gefährlich. Diese Gebahren birgt die Gefahr, ihn zu verkennen. Früher oder später wird er Mittel und Wege finden, den Medienbann zu unterlaufen. Das könnte weitere Eingriffe in die Informationsfreiheit erforderlich machen. Mit Prävention hat das wenig zu tun, aber viel mit politischer Kurzsichtigkeit.

Für die Bundesrepublik Deutschland kann man annehmen, dass etwa 30 Prozent der Gesellschaft nicht mit der jeweiligen offiziellen Linie übereinstimmt. Das hat die Pandemie jüngst wieder gezeigt. In den 1980er Jahre stand ein ähnlich großer Prozentsatz in der Bundesrepublik extrem rechten und revisionistischen Positionen nahe. Wahrscheinlich wird es im aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht anders sein.

Angesichts dieser Realität RT und Sputnik zu verbieten, zeugt von der Hilfs- und Konzeptionslosigkeit der EU-Oberen. Gleichzeitig ist es ein Armutszeugnis für Brüssel, wenn es meint, mit missliebigen Medien genauso umgehen zu müssen wie Putin. Außerdem erweckt das Vorgehen den Eindruck, als erachte die EU die gesellschaftliche Mehrheit derart dämlich, ergo verführbar, dass sie vor den Berichten der beiden russischen Medien geschützt werden müsste. Dieses Agieren eines Obrigkeitsstaates mag zur politischen (Un-)Kultur von Ländern wie Spanien, Polen oder Ungarn passen, es widerspricht jedoch der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in weiten Teilen der EU.

In Deutschland zum Beispiel wird Studierenden gelehrt, wie sie sich selbständig ein Thema erarbeiten. Selbstverantwortliches Planen und Durchführen von Aufgaben gehört auch in anderen Bereichen zur Selbstverständlichkeit. Entscheidungen werden aufgrund von Erfahrungen und Informationen gefällt. Die Qualität von Informationen tritt jedoch erst dann zutage, wenn die guten auf die schlechten, die wahren auf die falschen treffen. Wer sich diesem Zwiekampf nicht stellt, flüchtet sich in die medienpolitische Heuchelei. Diese verblendet nicht als die Kriegspropaganda der Gegenseite.

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